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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

Nun sei das Ziel, die Ankunft, das Höchste — zwar immer noch nicht erreicht
— doch schon in Aussicht.

Unter unserem Aspekt ist das Besondere an diesem Goethe-Gedicht, dass
darin die Wege des augenblicklich real Erlebten und des ideell Aufgefassten
bzw. Erdachten auf vielerlei Weise ineinanderfließen, indem sie einander meis¬
tens gleichzeitig als Vergleichendes und Verglichenes gegenseitig metaphorisch
bespiegeln.

Somit entstand die Geniehymne par excellence. Sie war in ihrer Art die
erste in der deutschen Literatur, der bis Ende 1774 noch manche gefolgt sind.

*

Lassen Sie mich nun ein poetisches Bild auf Goethes Wegen zweieinhalb Jah¬
re nach dem Sturmlied vergegenwärtigen.

Der junge Goethe saß am 10. Oktober 1774 in der „Postchaise“, unterwegs
von Darmstadt nach Frankfurt. Der Weg, die Strecke, die Entfernung betrug
etwa 25 Kilometer. Die Fahrzeit durfte nach meinem Ermessen anderthalb bis
zweieinhalb Stunden gedauert haben. Es war vermutlich bereits Spätnach¬
mittag. Wegen der kürzer gewordenen herbstlichen Tage war daher größte Eile
vonnöten, um noch vor Dunkelwerden anzukommen. Das Tempo der Fort¬
bewegung war streckenweise in heute kaum vorstellbarem Maße unterschied¬
lich. Das alles wissen wir genau, denn Goethe fühlte sich veranlasst, die mo¬
mentanen Eindrücke und Empfindungen bereits während dieses Weges, d.h.
an Ort und Stelle während der Fahrt, wie bei der Wanderung in der Sturm¬
hymne in freien Rhythmen festzuhalten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich versichere Ihnen, dass Sie,
die den Weg von Darmstadt bis Frankfurt in einer Postkutsche im angehenden
Herbst eventuell noch nicht zurückgelegt haben und es wohl auch nicht aus¬
probieren würden, um die merkwürdigen Umstände so einer Fahrt zu erfahren,
dass Sie das auch nicht mehr unbedingt zu leisten brauchen. Wenn Sie nämlich
das Goethe-Gedicht mit entsprechendem Einfühlungsvermögen lesen, werden
sie alles mit eigenen Augen und Ohren, ja sogar am eigenen Körper miterleben.
Da versuchen Sie sich nur in diese etwas wacklige Chaise auf der alten Land¬
straße hineinzuträumen und mit zwei, vier, eventuell sechs PS über Stock und
Steine den steilen Hang hinabzurasen. Erleben Sie dann mit Goethe bei gleicher
Pferdestärke auch den immer wieder plötzlich eintretenden, gewissermaßen
auch beängstigenden Geschwindigkeitswechsel, wie es da heißt „den eratmen¬
den Schritt mühsam Berg hinauf“, wobei man den Wagen aufwärts am liebs¬
ten zu Fuß mitschieben würde. Nach der anstrengenden Leistung, den Höhe¬
punkt des Weges erreicht, hält man mit Goethe tief durchgeatmet eine kurze
Schnaufpause bei Bewunderung des herrlichen Panoramas und beim „schäu¬
menden Trank“. Plötzlich folgt dann erneut die hastige Eile ins Tal, wobei die

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