OCR Output

BEGEGNUNGEN MIT DER DEUTSCHEN LITERATUR

fekte an die junge ungarische Literatur, die sich diesem Lebensgefühl von
Anfang an verbunden fühlte. Überhaupt ist es auffallend mit welchem Inte¬
resse man sich in den ungarischen romantischen Jahrzehnten den letzten
Schillergedichten (des Öfteren sogar mit mehreren Nachdichtungen) zuwandte.
Hinzugehören u. a. Hero und Leander, Der Graf von Habsburg, Sehnsucht, Die
Erwartung, Das Geheimnis, Der Alpenjäger, An die Freunde, Der Pilgrim, Das
Lied von der Glocke, An Emma, Würde der Frauen, Des Mädchens Klage, die
Balladen von 1797/98 fast ausnahmslos und alles aus der späten und früheren
Dichtung, was den sentimental-romantischen Rückzug aus der Wirklichkeit
versprach. Jedenfalls wurde Der Jüngling am Bache bis 1842 sechsmal (!) ins
Ungarische nachgedichtet,!” das letzte Mal von Sändor Petöfi, dessen angehen¬
de Dichtung (bereits vor seiner Identifizierung mit Wilhelm Tell) eine ganze
Reihe von Schiller-Adaptationen enthielt.

Von den trivialen Freuden an den ersten Räuber-Aufführungen in Ungarn
und dem Räuberlied!!' über das romantische Räuber-Verständnis von Bajza
und Toldy'!! bis zur Wilhelm-Tell-Aufführung im Ungarischen Nationalthea¬
ter im November 1848, bzw. von der trivialinteressierten Öffnung für Schiller
über die klassizistische und romantische Anerkennung seines CEuvre bis zur
ungarischen Vormärzbegeisterung für ihn!!? wurde er von den Ungarn in allen
Epochen als ihr eigener Dichter geachtet und gefeiert.

5.

Ansichten, Urteile und Beziehungen sind im geistigen Leben nie deckungs¬
gleich, gibt es ja zu dem, was erschlossen und in Besitz genommen werden soll,
jeweils die unterschiedlichsten Wege, sind ja auch bei den gleichen Zielen die
Ausgangspositionen notwendiger Weise grundverschieden. Meine Margina¬
lien zum breiten rezeptionshistorischen Strom der deutschen Literatur in
Ungarn sollten nun nachempfinden lassen, dass die deutsche Literatur der
Goethezeit in ungarischer Sicht vor 1850 eine ganze Reihe von Abweichungen
vom tradierten Literaturbild der historischen Germanistik aufweist. Die Früh¬
romantik und E. T. A. Hoffmann waren daraus so gut wie ausgeklammert.
Dafür verloren die Ungarn aus ihrem Blickfeld mit Sicherheit all das nicht,
wofür seinerzeit auch die zeitgenössischen deutschen Leser schwärmten,

109

Siehe die zweisprachige Bibliographie „Schiller Magyarorszägon“ [Schiller in Ungarn], S. 95 f.
Siehe in diesem Band Kap. „Schillers Räuberlied und seine Varianten auf fliegenden Blättern“.
Tarnoi, Läszlö: Die Normen der Romantiker Ferenc Toldy und József Bajza für die Schiller¬
Rezeption und deren Wandlungen. In: Theorien, Epochen, Kontakte. Festschrift zum 60. Ge¬
burtstag von Prof. Dr. Antal Mädl. 2. Teil. Budapest: 1989, S. 7-16. (= Budapester Beiträge
zur Germanistik, Bd. 20)

Siehe in diesem Beitrag Kapitelteil „Lesarten und Narrative des »Wilhelm Tell«“.

110
111

112

+ 297 «