BEGEGNUNGEN MIT DER DEUTSCHEN LITERATUR
und theoretischen Abhandlungen mehr als ein halbes Jahrhundert lang jeweils
eminente poetische Anregungen sowie entscheidende Argumente zur Recht¬
fertigung ihrer jeweiligen Vorhaben.
Die rund sechs Jahrzehnte lang kontinuierlich wahrende besondere Rezep¬
tionsoffenheit der Ungarn fiir Schiller bzw. seine außerordentliche Beliebtheit
im Königreich belegen u. a. auch sein herausragender Berufungs- und Zitaten¬
index wie auch die Tatsache, dass sein Name z. B. in zeitgenössischen Auf¬
zählungen deutscher Schriftsteller in Briefen, Aufsätzen, Rezensionen, ja sogar
belletristischen Werken ungarischer bzw. ungarndeutscher Autoren merk¬
würdiger Weise der Chronologie, der alphabetischen Reihenfolge und vor allem
der späteren Wertorientierung widersprechend fast ohne Ausnahme vor Goe¬
thes Namen steht, falls letzterer überhaupt genannt wird.”°
Schillers poetische Werke wirkten besonders stark und nachhaltig auch auf
die zwei vermutlich bekanntesten Ungarn des 19. Jahrhunderts, auf Istvan
Széchenyi und Lajos Kossuth. In Szechenyis Tagebüchern” und Kossuths
politischen Reden, Briefen und verschiedenen Textentwürfen?” begegnet man
immer wieder Schiller’schen Worten, Ideen und Zitaten, in denen Kossuths
fast immer sogar ohne jede Berufung auf die bewunderte Quelle. In jenen
Jahren war dies auch nicht unbedingt nötig, waren ja damals auch die Adres¬
saten im Königreich lauter „Schiller-Experten“. Ein Beispiel dafür sind die
leidenschaftlichen Worte an die „ungarischen, slawischen und rumänischen
Brüder“ am Ende des Kossuth-Projekts über die „Donau-Konföderation“ der
Nationen des Donautales:”
In Gottes Namen bitte ich die ungarischen, slawischen und rumänischen Brüder,
sie mögen die Vergangenheit vergessen, einander die Hand reichen, wie ein Mann
aufstehen und für die gemeinsame Freiheit kämpfen - alle für einen und einer für
alle - nach dem alten, von den Schweizern gegebenen Beispiel. Ich bitte sie in
Gottes Namen, sie sollen den Entwurf annehmen, der keine Konzession ist, sondern
eine gegenseitige und freie Verbindung. Jede Nation an der unteren Donau könnte,
selbst wenn es ihr gelänge, ihre jetzt zu anderen Staaten gehörenden Stammver¬
» Siehe dazu meine Notizen unter dem Titel Friedrich Schiller aus ungarischer Sicht. In: Mit¬
einander. Bd. 5, Stuttgart: Ungarisches Kulturinstitut, 2005, S. 126 f. sowie unter dem Titel
Friedrich Schiller „a mienk [is] volt“. In: Filolögiai Közlöny. Schiller olvasatok [Schiller Les¬
arten]. Budapest: 2010, Jg. 65, Nr. 2, S. 164. [Dt. umgearbeitet in „... er war [auch] unser.“
Ungarns Friedrich Schiller. In: Im Schatten eines anderen? Schiller heute. Frankfurt am Main:
Peter Lang, 2010, S. 205 £.
Vgl. dazu in: Friedrich Schiller „a mienk [is] volt“, S. 165. [Dt. umgearbeitet in: „... er war
[auch] unser.“ Ungarns Friedrich Schiller, S. 206 f.
Turöczi-Trostler, Jözsef: Zur Wirkungsgeschichte Schillers in Ungarn. In: Schiller Magya¬
rorszägon [Schiller in Ungarn], S. 45-48.
Gragger, Robert Prof. Dr.: Die Donau-Konföderation. Ludwig Kossuths Plan zur Lösung des
Donau-Staaten-Problems. Berlin: Verlag von Hans Robert Engelmann, 1919, 24 S. Mehr dar¬
über siehe S. 191-200 in diesem Band.