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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

Konturen der Kazinczy’schen Goethebilder, die er sich bereits seit den aus¬
gehenden siebziger Jahren schuf. Aber persönlicher Geschmack und Bildungs¬
wille und die glückliche Übereinstimmung seiner individuellen Ansprüche
und Ziele mit den bildungshistorischen Bedürfnissen seiner Landsleute fokus¬
sierten Kazinczys Interesse allmählich, bis nach 1800, auf einen Goethe zwi¬
schen der Prosafassung und der vollendeten Iphigenie — die Zeit etwas breiter
gefasst eventuell sogar auf die zwei Jahrzehnte währende Entstehungsgeschich¬
te des Wilhelm-Meister-Romans. Kazinczy kannte den Sturm-und-Drang¬
Dichter, er übersetzte sogar eine ganze Reihe von ihm, und produktive Be¬
ziehungen entstanden auch zum Verfasser der Wahlverwandtschaften und von
Dichtung und Wahrheit. Identifizieren konnte er sich aber weder mit den ad
absurdum potenzierten Freiheitsansprüchen des Stürmers und Drängers noch
mit den Grundformen jener hoch- und spätklassischen Positionen, welche
bereits eine distanzierte Haltung gegen tagespolitische Aktualitäten voraus¬
setzten und in der poetischen Praxis folgerichtig die höchstmöglichen Abs¬
traktionen und Verallgemeinerungen anstrebten. Trotz des produktiven Um¬
gangs mit diesen Werken homogenisierte Kazinczys Goethebild vor allem
jenen Goethe, der sich in seiner Dichtung zwischen 1775 und 1786 von dem
Sturm und Drang entfernte bzw. der seine erste achtbändige Werkausgabe
(1788-1790) vorbereitete. Es ist jener Goethe, der dabei die Umarbeitung der
früheren Werke bereits nach den neuen ästhetischen und ethischen Normen
vornahm, wo jenes Klassische, das die /phigenie ausstrahlte, seinerzeit als das
erstaunlich Moderne®® galt, und das den Aufstieg durch die ästhetisch-mo¬
ralische Bildung des Charakters einem jeden, also - im Sinne der aufgeklärten
Utopie — der ganzen Gemeinschaft versprach. Kazinczys literarische Wert¬
vorstellungen waren mit denen des 1788 aus Italien zurückgekehrten Früh¬
klassikers auf das Engste verbunden: Zum Beispiel distanzierte sich Goethe
nach seiner Ankunft in Weimar mit entschiedenem Widerwillen von Schillers
Räubern.° Beachtlicher Weise fühlte sich aber auch Kazinczy — ohne diese
kritische Stelle in Goethes Werk gelesen zu haben, bei aller Anerkennung der
übrigen Schillerdramen nur von den „teuflischen Räubern“ angewidert.° Man
dürfte sich aber auch manche anderen Parallelen überlegen: Es ist bekannt,
dass unter den dramatischen Umarbeitungsversuchen für die erste Werkaus¬
gabe allein Faust ein Fragment blieb. Ob dem Verfasser damals bereits bewusst
war, dass das Ihema wesentlich mehr in sich hatte, als was mit den bis um
1790 errungenen frühklassischen Ansichten zu vollbringen war? Und wenn

58 Siehe dazu Schillers Brief an Körner, Weimar, den 21. Januar 1802. In: Schillers Briefe in zwei
Bänden. Bd. 2, Berlin / Weimar: Aufbau-Verlag, 1968, S. 278 (= Bibliothek deutscher Klassiker,
BdK)

5° Goethe: Erste Bekanntschaft mit Schiller (1794). In: Berliner Ausgabe, Bd. 16, S. 402.

60 Kazinczy, Ferenc an Frau Miklós Kazinczy, Széphalom, den 18. Februar 1809. In: Kazinczy,
Ferenc: Levelezése [Briefwechsel]. Hg. v. Vaczi, Janos in 22 Banden. Bd. 6, Budapest: Magyar
Tudományos Akadémia, 1895. Nr. 1423, S. 238.

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