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BEGEGNUNGEN MIT DER DEUTSCHEN LITERATUR

Varianten zum anonymen Ich und mein Fláschchen? und Csokonais urwüch¬
sig-volkstümliches, derb-witziges und keckes Szerelemdal a csikóbőrös kulacs¬
hoz (Liebeslied an die mit Fohlenfell bezogene Feldflasche) und das 1758
entstandene Original der beiden von Ewald von Kleist? einander gegenüber¬
zustellen. Es besteht kein Zweifel, die ungarischen Rezipienten leisteten mit
ihren Adaptationen beides Mal ein höheres poetisches Niveau als die Verfasser
ihrer deutschen Vorlagen.*®

Dichter und Dichtungen

1.

Die produktive Begegnung der Ungarn mit den Goethe- und Schillerwerken
nahm bereits im Josephinischen Jahrzehnt ihren Anfang. Dank der außeror¬
dentlichen Persönlichkeit der ungarischen Literaturgeschichte, Ferenc Kazin¬
czy (1759-1831), und seiner nachhaltigen Wirkung auf die Entwicklung der
ungarischen Literatur entstand in Ungarn bereits recht früh und für die Dau¬
er von mehr als einem halben Jahrhundert ein höchst anspruchsvolles und
seinem Inhalt nach eindeutig klassizistisch orientiertes Goethebild.°’ Dieses
hatte aber gar nichts mit einem atemberaubenden zeitlosen Memento leblos
erstarrter antikisierender Standbilder gemein. Es war auch nicht von jener
späten Tendenz des Klassizismus geprägt, die um und nach 1800 manchen
Dichtern in Deutschland Fluchtwege aus der unbegreifbar gewordenen Gegen¬
wartin eine verklärte Vergangenheit öffneten. Kazinczy schuf für seine Lands¬
leute ein Goethebild, welches die Winckelmann’schen Prinzipien von der
Schönheit mit dem Anspruch auf zukunftszugewandte Bildung und ununter¬
brochenen Aufstieg verband und Perspektiven für jede Erneuerung der Spra¬
che, Literatur und Kultur guthieß, wobei freilich auch ihm aufgeklärte Utopien,
wie sie in Deutschland bis etwa 1790 gängig waren, vorschwebten.

Man kann sich allerdings die Frage stellen, welchem von den vielen „Goe¬
thes“ zwischen Sturm und Drang und Spätklassik wurde sein Goethebild ge¬
recht bzw. mit welcher der unzähligen zeitgenössischen und späteren Goethe¬
Interpretationen korrespondierte es? Natürlich veränderten sich auch die

54 Siehe dazu ebd. [Kap. 3.4.2. Müßiggang und Tugend], S. 61-65.

55 Kleist, Ewald Christian von: Liebeslied an die Weinflasche. In: E. Ch. v. Kleist: Ihn foltert
Schwermut, weil er lebt. Berlin: Buchverlag der Morgen 1982. S. 95 f. (= Markischer Dichter¬
garten)

5° Tarnöi, Läszlö: Parallelen, Kontakte, Kontraste, [Kap. 6/2/2: Ungarndeutsche und ungarische
Parallelen: Die Offenheit für die deutschen Modetrends in der Lyrik], S. 222-226.

”” Siehe darüber vor allem die umfangreichen und deutsch veröffentlichten Forschungsergeb¬
nisse von Istvän Fried unter dem Titel „Goethe und Kazinczy. Einige Fragen der ungarischen
Goethe-Rezeption“. In: Rezeption der deutschen Literatur in Ungarn 1800-1850. 1. Teil.:
Deutsche und ungarische Dichter. Hg. v. Tarn6i, Läszlö: Budapest: 1987, S. 47-90. Vgl. dazu
auch Szauder, Jözsef: Kazinczys Klassizismus. In: Studien zur Geschichte der deutsch-unga¬
rischen Beziehungen. Hg. v. L. Magon, G. Steiner, W. Steinitz, M. Szabolcsi u. Gy. M. Vajda.
Berlin: Akademie-Verlag, 1969, S. 141-147.

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