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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

Die Begegnung mit dem vielfáltigen deutschen Angebot der Goethezeit fiel
in Ungarn in eine Zeit des außerordentlich schnellen Aufstiegs seiner Litera¬
tur, als der kulturelle Anschluss an das Niveau der europäischen Literaturen
zum unmittelbaren Ziel erklärt wurde. So war man im geistigen Leben plötz¬
lich europaoffener denn je. Alles wurde entlehnt, was in den verschiedenen
Entwicklungsphasen den jeweiligen Tendenzen angemessen schien und die
Kultur und Literatur zu fördern versprach. Das an und für sich Fremde wurde
dabei mit bewundernswertem Einfallsreichtum adaptiert und für Ungarn
heimisch gemacht. In der literaturhistorisch relativ kurzen Zeit wurden auf
diese Weise beträchtliche Rückstände im Vergleich zu westeuropäischen Ent¬
wicklungen wettgemacht. Die Sprache wurde erneuert. Der Übersetzung aus¬
ländischer Werke und der Entlehnung fremder poetischer Strukturen wurde
dabei eine ähnliche Bedeutung beigemessen wie in Deutschland im Jahrhun¬
dert des Martin Opitz und der deutschen Sprachgesellschaften. Gleichzeitig
wandten sich die Ungarn den Ideen der Aufklärung zu, übten sich im Lehr¬
gedicht und im Rokokostil, verkündeten Ideen der vollkommenen Klassizität,
erprobten aber auch die Biegsamkeit der Sprache in verdünnten sentimentalen
Liedern und suchten die Wege zu ihrer Folklore. In unmittelbarem Anschluss
daran entwickelten sich typologische Merkmale der nationalen Romantik mit
der Beschwörung der Heldentaten aus der ungarischen Vergangenheit - in den
zwanziger Jahren in groß angelegten Epen, in den dreißiger Jahren vorwiegend
in der Art der Manier der schwäbischen Romantik.

So entstanden in Ungarn wegen der verhältnismäßig schnellen Fortschrit¬
te mit einer Selbstverständlichkeit vielfältige Verflechtungen solcher in
Deutschland einander eher widersprechenden, zum Teil sogar einander aus¬
schließenden Tendenzen, wie Aufklärung und Romantik, elitärer Klassizismus
und bis zur Trivialität alles überströmender Spätsentimentalismus, Klassik
und Romantik, sowie unter politisch-weltanschaulichen Aspekten z. B. der
engagierte Einsatz für patriotische bzw. nationale Interessen und/oder ande¬
rerseits die Vertretung von weltoffenen, weltbürgerlichen, sich der Sache der
ganzen Menschheit zugewandten Stellungnahmen.

Für den Spezialfall des Rezipienten war es in den sieben Jahrzehnten typisch,
dass die aufgeklärten Ideen eines weltoffenen Universalismus und das natio¬
nale Engagement für das ungarische Vaterland bei allen möglichen stilhisto¬
rischen Akzentverschiebungen einander nie ausschlossen. In der deutschen
Geistesgeschichte machten sich dagegen diesbezüglich um 1800 herum eher
ein Nacheinander, und von den zwanziger Jahren an vor allem ein divergie¬
rendes Nebeneinander dieser ideologisch motivierten politischen Positionen
bemerkbar.

Man könnte die ganze geistige Epoche des Königreichs mit den in Ungarn
heute noch allgemein bekannten Worten des 1835 sich vom Reformlandtag

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