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BEGEGNUNGEN MIT DER DEUTSCHEN LITERATUR

Zu Goethes Lebzeiten war das Niveau des deutschsprachigen Angebots der
ungarischen Lyrik freilich noch um vieles niedriger als hundert Jahre später,
als Gragger in Dresden seinen Vortrag darüber hielt. Man braucht hierzu nur
die Proben im Neuen Teutschen Merkur von 1807°* bzw. die ins Deutsche
übersetzten Gedichte in Ferenc Toldys Blumenlese®® und in seinem zweibän¬
digen Handbuch der ungarischen Poesie” von 1828 zu lesen. Dabei geht es
nicht nur darum, dass die jeweilige deutsche Version mancher ungarischen
Gedichte der Goethezeit in diesen Bänden auf das Niveau der zeitgenössischen
deutschen Almanach-Lyrik in der Art der Matthisson- und Bürger-Nachah¬
mungen gesunken seien — wie dies Lajos Hatvany geistreich feststellte.’ Leider
sind nämlich die meisten dieser deutschen Übersetzungen nichts Weiteres als
schlechte Gedichte in einem schlechten Deutsch geschrieben, oft sogar mit
überraschenden poesiefremden Mitteln veröffentlicht. (Man vergleiche hierzu
die sprachlichen Bravours mit Reimen und Rhythmen sowie die verstechni¬
schen Einfälle und die lautmalerischen Effekte des Bacchus-Liedes von Cso¬
konai [Bakhushoz, dt. An Bacchus] Vers für Vers mit dessen reim- und rhyth¬
musloser deutscher „Nacherzählung“, wobei an einer Stelle das seltenere
ungarische Wort „tivornya“ [dt. Orgie, Bacchanal, Gelage] aus welchen Grün¬
den auch immer im deutschen Text unverändert ungarisch [!] erhalten blieb.)
Goethe, dem der ungarndeutsche Herausgeber das Handbuch zugeschickt
hatte, las darin am 10. November 1828 laut seiner Tagebuchaufzeichnungen,
doch berichten diese von keinerlei Eindrücken.

Die persönliche Begegnung von Toldy (dem damals angehenden ersten
bedeutenderen ungarischen Literaturhistoriker) und Goethe (ein Jahr später
während der Feierlichkeiten des 80. Geburtstags) erhielt zwar bereits im zeit¬
genössischen literarischen Leben der Ungarn verständlicher Weise eine be¬
achtliche symbolische Bedeutung, doch vom Handbuch sowie von Goethes
Meinung über die ungarische Literatur gab es selbst in Toldys Briefen aus
Weimar und Berlin an die ungeduldig darauf wartenden Jözsef Bajza,** Ferenc

Poesie (von Csokonai, Berzsenyi, Vörösmarty, Petöfi, Arany, Ady, Kosztolänyi, Babits, Attila
Jözsef und vielen anderen erstrangigen Dichtern) veröffentlichten. Siehe in diesem Zusammen¬
hang auch die Kapitel über Ärpäd Toth und Miklös Radnéti in diesem Band S. 219-237 und
239-265.
34 Der Neue Teutsche Merkur, 1807, Heft 7, S. 197-199. Siehe auch Schnittpunkte, Bd. 1, S. 281 f.
35 Blumenlese aus ungrischen Dichtern in Ubersetzungen. Hg. v. Franz Toldy. Pesth u. Wien:
G. Kilian u. K. Gerold, 1828. 176 S.
Handbuch der ungarischen Poesie. 2 Bde. Hg. v. Franz Toldy. Pesth u. Wien: G. Kilian u.
K. Gerold, 1828. LXX XVI; 349; 572 S. Das äußerst niedrige Niveau veranschaulichen u. a. die
deutschen Ubersetzungen der ungarischen Gedichte unter dem Titel „An Bacchus“ und „Die
arme Suse“ v. Mihäly Csokonai Vitez.
Hatvany, Lajos: Öt evtized [Fünf Jahrzehnte]. Szepirodalmi Könyvkiadö, 1961, S. 161.
Ferenc Toldy an Jözsef Bajza, Weimar, den 5. September 1829. In: Bajza Jézsef és Toldy Ferenc
levelezese [Briefwechsel v. J. Bajza u. F. Toldy]. Hg. v. Oltvänyi, Ambrus. Budapest: Akademiai
Kiadó, 1969, S. 469.

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