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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

mag vielleicht sein, dass in Schillers Tell auch die Ungarn nicht nur den dra¬
matischen Helden erlebten, sondern den Schweizern ähnlich auch ihre Identi¬
fikationsfigur für Freiheit, Einheit und Unabhängigkeit, nicht anders als in
ihrem klassischen Banus Bank von Jézsef Katona.” So konnte ich z. B. neulich
sogar intertextuelle Beziehungen zwischen Kossuths Worten an die Nationen
des Karpatenbeckens am Ende seines Donaukonföderations-Entwurfes und
Szenen im Wilhelm Tell nachweisen.!! Aber auch die vom Pester Kartenstecher
Joseph Schneider im Jahre 1836 angefertigte und im Karpatenbecken heute
noch allgemein verbreitete so genannte „magyarische Spielkarte“, dieser non¬
verbale Beleg des ungarischen Tell-Kultes, mit lauter Szenen und Figuren des
Schiller’schen Tell verkündet die enge Verbundenheit des ungarischen Volkes
mit Schillers dramatischem Helden - sogar aus einer Zeit, als die Zensurbe¬
hörden schon eher bereit waren, die Aufführung der Räuber als die des Wilhelm
Tell zu genehmigen. An die Werkstatt, an die Geschichte der ungarischen
Wilhelm-Tell-Karte und an seinen ersten Hersteller und Verbreiter, Joseph

Die ungarische Wilhelm-Tell-Karte von Joseph Schneider

10 Der erste Tag der friedlichen Revolution in Pest war am 15. März 1848 mit der Aufführung
des ersten Aktes des klassischen Nationaldramas von Jözsef Katona im Ungarischen National¬
theater gekrönt. (Die Bedeutung dessen wurde keineswegs beeinträchtigt dadurch, dass diese
Aufführung bereits unmittelbar nach dem ersten Aufzug ins begeisterte Feiern der Erfolge
des großen Tages überging.) Bezeichnenderweise erlebte das Pester Publikum wenige Wochen
vor dem Einmarsch der österreichischen Truppen ebenda am 25. November 1848 die ungari¬
sche Erstaufführung des „Wilhelm Tell“ und damit im Revolutionsjahr noch ein letztes Mal
ein Stück Freiheit.

! Mehr darüber (mit den entsprechenden Kossuth-Worten in deutscher Übersetzung) siehe in
diesem Beitrag S. 195.

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