Vors Haus trat ich hinaus, die Zeiger zeigten zehn
auf blankem Rad voriiber fuhr ein Backer, sang,
ein Flugzeug brummte, Sonne schien, es war grad zehn
der toten Tante dachte ich, schon zogen
zu Haupten mir, die ich geliebt und nicht mehr leben
umdüstert flog die Heerschar stummer Toter, ungesehen
ein Schatten stürzte, lagam Haus in Fetzen.
Die Stille wuchs, der Tag hielt an, es war grad zehn
die Straße überzogen Friede und Entsetzen.
In den sachlich detailliert geschilderten Frieden des Alltags der ersten beiden
Verse dröhnt ein Flugzeug hinein, im sonnenhell leuchtenden Vormittag kom¬
men Totenbilder auf, erst das der Tante, dann einer „Heerschar stummer
Toter“ als Vorbereitung der mit Vorahnungen schwer belasteten Symbole und
Worte: „ungesehen ein Schatten stürzte, lag am Haus in Fetzen“. Die wieder¬
holte Zeit geht im Gedicht keine Sekunde voran. Würde sie weitergehen — so
empfindet man es — dann könnte dies schon den Untergang bedeuten. Hinzu
kommt, dass es im Gedicht kaum einen einzigen Ton gibt: erst „sang“ der
Bäcker, dann „brummte“ ein Flugzeug und danach ist nichts weiter als Stille,
Totenstille, die spannungsgeladene Stille des Friedens, des nahenden Todes,
des Untergangs der Menschheit, hierbei mit der entsetzlichen Antikriegs- und
Friedensmetapher des Ungarn Ärpäd Töth sinnverwandt, mit seiner „nach¬
menschlichen Stille“, die nach gegenseitiger Ausrottung der Menschheit ein¬
treten würde. In der höchst präzisen und mit außerordentlichem Einfühlungs¬
vermögen gestalteten Pietraß-Nachdichtung gehen „Frieden“ und „Entsetzen“,
die ihrem ursprünglichen Inhalt nach polarisierten Begriffe, bereits völlig
ineinander über: Im Frieden ist bereits das kommende Entsetzen gegenwärtig,
genau wie im originalen Gedicht von Radnöti. (In der Übersetzung von Mar¬
kus Bieler gibt es nichts dergleichen, da der Schlüsselvers, missverstanden,
nicht Träger der Vision werden kann: „ein Schatten fiel aufs Häusermeer und
meinen Schritt“. - Die letzten Worte sind vermutlich Einfälle wegen des Reim¬
zwangs.)
Kein Antikriegs- und Friedensgedicht von Miklös Radnöti konnte so eine
Wirkung auf das deutsche Publikum gehabt haben, wie dieses. Es stand im
Mittelpunkt des Dokumentarfilmes von Eduard Schreiber und Günter Rücker,
immer wieder Teile daraus oder aber auch das ganze Gedicht zitierend. Die
neun Verse von Friede, Entsetzen kontrastierten dabei mit deutschen Fühmann¬
Metaphern der Zukunft- und Friedensbekenntnisse des ungarischen Dichters,
z.B. mit denen des Friedenshymnus und der Eklogen, diese wiederum mit den
Versen der erschütternden 4. Ansichtskarte. Im Hintergrund stiegen bewegte
und erstarrte Bilder von Budapest und Ungarn vor und im Krieg auf, mit
Straußmusik im Dreivierteltakt und sich im Flugzeugdröhnen zersetzenden