LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE
In den letzten beiden Ansichtskarten zersetzt sich bereits vom Tode verzerrt
die metaphorische Zeichnung der blutdurchtrankten Bilder. In der 3. Ansichts¬
karte?” ist jede Harmonie schon verloren:
Vom Maul der Ochsen tropfen Blut und Speichel,
die Menschen urinieren alle Blut.
In Knäueln stinkend steht die Kompanie
und über uns der Tod heult wie ein Vieh.
Aber gerade an diese wenigen Gedichte und die darin konstituierte, von Dis¬
harmonien zersetzte oder zumindest gestörte Sichtweise knüpft die jüngere
Generation deutscher Künstler an. Reinhart Heinrich wählte bereits am Anfang
der siebziger Jahre folgende von Fühmann übersetzte Radnöti-Strophe aus dem
Torso°® zum Motto eines seiner Gedichte°*:
Zu einer Zeit lebt ich auf Erden,
da der Mensch so verkommen war, dass er
freiwillig tötete, nicht auf Befehl nur,
und da er Irres glaubend, schäumend Irres sann,
geschah’s, dass wüster Wahn sein Leben ganz umspann.
Von diesem in die Vergangenheit gesetzten „Zu einer Zeit lebt ich auf Erden“,
mit dem Radnöti mit der lapidaren Kürze der Grabschriften dem eigenen Tode
kühn ins Auge schaut, mit dem in monotoner Eintönigkeit jede Strophe anhebt,
um sie jeweils mit einer Kette Schauer erregender Temporalsätze abzurunden,
mit Versen voller Finsternis und stickiger Perspektivlosigkeit, bar jedes sonst
immer wieder aufschimmernden Lichtstrahls, fühlte sich der damals erst
siebenundzwanzigjährige Reinhart Heinrich persönlich angesprochen und ließ
sich zu einem aktuellen lyrischen Bekenntnis bewegen. Somit kam es zu einer
neuen Dichterbegegnung. Radnötis erschütternde Worte aus der Vergangenheit
korrespondierten mit dem in den siebziger Jahren neu aufkommenden ge¬
störten Zeitverständnis eines bereits in der Nachkriegszeit geborenen Dichters:
Mit der Aufnahme der poetischen Strukturen des ungarischen Lyrikers er¬
härtete sich diese dissonante Gegenwartssicht. Nichts kehrt sich in dieser
poetischen Radnöti-Heinrich-Korrespondenz gehaltlich um, wenn der Rad¬
nöti-Satz von Reinhart Heinrich mit den Worten „Zu dieser Zeit leb ich auf
Erden“ (Hervorhebung L. T.) vergegenwärtigt wird, wenn innerhalb der
52 Ebd., S. 91.
53 Ebd., [Töredékj], S. 75.
54 Heinrich, Reinhart: Zu dieser Zeit leb ich auf Erden [1973]. In: Die eigene Stimme. Lyrik der
DDR. Berlin: Aufbau-Verlag, 1988, S. 337-338.