Die Fühmannsche Vermittlung der Friedensbotschaft von Radnóti inspiriert
seither deutsch lesende Empfánger immer wieder zu individuellen und zeit¬
gemäßen Neuinterpretationen sowie zu Neuentdeckungen im CEuvre des
Ungarn. Dabei verschieben sich die Akzente in Lesart und Wirkung. Die Be¬
gegnung Fühmanns mit Radnóti vermochte gewiss einen der signifikantesten
Wesenszüge der Radnöti-Lyrik zu erschließen: Durch Fühmanns individuell¬
schöpferischen Zugang zu dem ungarischen Dichter mit seinen deutschen
Dichterworten konstituierte sich die Poesie eines Verfolgten und Märtyrers
— eines Dichters, der wie kein anderer sein humanistisches Friedens- und
Harmonieempfinden aller Unmenschlichkeit entgegensetzte, um somit die
Dissonanzen der Wirklichkeit im Glauben an den Menschen, an seine Mensch¬
lichkeit und an seine Zukunft aufgehen zu lassen.
Und tatsächlich ist es die Zahl jener Gedichte, in denen der schöne Aus¬
gleich der Gegensätze fehlt, verhältnismäßig gering. Vielleicht aber blieb
Radnötis Torso auch deswegen ein Fragment, weil dem Dichter innerhalb der
beabsichtigten allgemeineren Gegenwartscharakteristik im Jahre 1944 der
läuternde Einsatz seiner so bezeichnenden thematischen Gegensätze nicht wie
sonst gelingen wollte. Die metaphorische Ausgewogenheit fehlt auch in den
letzten zwei kleinen Gedichten, zwei Wochen und dann eine Woche vor seiner
Ermordung. In Gewaltmarsch und in den kurz davor und danach geschriebe¬
nen ersten beiden Ansichtskarten gelang es dem Dichter noch ein letztes Mal,
dem Gräuel die Idylle, die Liebe und die harmonische Natur entgegenzusetzen.
Am 6. Oktober 1944, einen Monat vor dem Tode, gelang ihm noch die fried¬
liche Hirtenidylle als Antithese zum bedrohlichen Kriegserlebnis. Die Kom¬
position der 2. Ansichtskarte°! ist noch voll ausgewogen. Die Metaphern sind
genau berechnet strukturiert: Nicht allzu weit „flammt [...] roter Schein“,
näher schon rückt die Angst mit dem Bild „verstörter Bauern“, während ganz
in der Nähe sorgsam die Szene einer friedlichen Idylle bewahrt wird: