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DIE FRIEDENSBOTSCHAET DES MIKLÓS RADNÓTI — DEUTSCH trag"? von ihm, der wegen der Begegnung mit Radnötis Poesie bereit war, sich sogar im „Ungarischen zu vervollkommnen“®®, bei aller Wort- und Formtreue nie so Radnöti-getreu, wie der des Berliner Nachdichters. Fihmann war nämlich bei den Radnöti-Übersetzungen auch sich selbst treu, was eine Grundvoraussetzung für künstlerische Schöpfung ist. Für Fühmann bedeutete die Radnöti-Nachdichtung keine künstlerische Artistik, sondern poetische Selbstklärung und Selbstfindung. Bielers Radnöti ist ein fremder Dichter eines kleinen Volkes in deutscher Sprache. Durch Fühmann wurde der Ungar Radnöti auch ein deutscher und damit ein europäischer Dichter. Auch Markus Bielers Radnöti-Gedichte können natürlich zum ungarischen Dichter führen, keines von diesen ist so dürftig wie das von Endre Gäspär, und man kann dem Schweizer deshalb auch für sämtliche von Fühmann nicht übersetzten Gedichte dankbar sein. Willman beim Lesen von Nachdichtungen echte Poesie erleben bzw. von einem fremden Dichter ein authentisches Bild erhalten, so bediene man sich immer der bislang besten Nachschöpfung. Allerdings sind Markus Bielers „Versuche“ ohne Ausnahme Gedichte. Schlimmer ist es, wenn man die unpoetische Radnöti-Poesie in Hans Bräunlichs Hörspiel liest oder hört. Gewiss hat auch dieses Hörspiel in hohem Maße dazu beigetragen, dass nun viele Deutsche wissen, wer Radnöti war, aber sicher weiß niemand von ihnen, welch großer Dichter zugleich. Hans Bräunlich verfiel dem immer wieder praktizierten Fehler: Man stellt schulmeisterisch die beispielhaften moralischen Werte des jeweiligen Künstlers aus, z. B. wie konsequent, wie engagiert, wie opferbereit usw. er war. Wie er gedichtet hat, würde nur ablenken. So wird beim Dichter gerade die Dichterexistenz ausgeklammert. Die sensationelle Biographie mit Bedrohtsein, Erschießung und Massengrab soll demnach wirken und nicht die sensationelle poetische Reflexion dieser Biographie. Aber warum nimmt man dann dazu einen Dichter? Fühmann - so behauptete Hans Bräunlich am 6. November 1985 im Haus der Ungarischen Kultur nach einer Aufführung seines Gewaltmarsches — sei ihm „zu süß“ gewesen. Deshalb wählte er holprige Hexameter, willkürlich reimende und rhythmisch durcheinander laufende Nibelungenverse u. a. m. Dies tat er mit Gedichten, die bei interessierten Zuhörern in der Übersetzung von Fühmann oder Bieler bereits bekannt sein konnten, oder vielleicht gerade in Vorbereitung auf das Hörspiel gelesen wurden. „Zu süß“ war aber für den Autor des Radnöti-Hörspiels die kathartisch wirkende gebundene poetische Form zweitausendjähriger Entwicklung menschlicher Kultur, von einem Dichter, der diese formale Gebundenheit als organischen und untrennbaren Bestandteil seiner 35 Radnóti, Miklös: Gewaltmarsch. Ausgewählte Gedichte. Nachdichtungen v. Markus Bieler, S. 6. 36 Ebd., Umschlagtext.