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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

Die Wege zum Dichter Radnóti führen allerdings für deutsche Leser in
erster Linie über Franz Fühmann. Und nicht nur, weil er der erste deutsche
Nachschöpfer des ungarischen Dichters war. Das einmalige ásthetische Niveau
und die hohe Wirkung der Übersetzungen Fühmanns lassen sich aber allein
mit der praktischen Verwendung seiner ,,Dreisprachentheorie“ von gebender
und empfangender Sprache sowie der Universalsprache der Poesie — nicht
erklären. Danach sei nämlich mangels Kenntnisse der „gebenden Sprache“
die produktive Zusammenarbeit des „Nachschöpfers“ und des „Interlinear¬
übersetzers“ am poetischen Original die Bedingung hochwertiger Nachdich¬
tungen.** Mit dem Begriff der „Universalsprache der Dichtung“, die Schöpfer
und Nachschöpfer miteinander verbinden soll mag der Zugang zum Original
durch eminente Fremdsprachenkenntnisse vorhanden oder durch hervorra¬
gende Zusammenarbeit mit dem Interlinearübersetzer geschaffen sein — wur¬
den aber lediglich Beziehungen von Dichtern vorausgesetzt, die ihr Handwerk,
die Technik des Dichtens, verstehen und außerdem eventuell im Stande sind
— dies dürfte ja auch zum Handwerk gehören — den verschiedensten künst¬
lerischen Inspirationen mit einer künstlerisch geformten Sprache poetisch
Ausdruck zu geben.

Wenn das so wäre, so müsste allerdings jeder Dichter jeden anderen gleicher
Weise nachdichten können. Qualitätsunterschiede würden ausschließlich
technischen Spitzfindigkeiten zu verdanken sein. Damit bliebe aber gerade das
Individuelle an künstlerischen Nachdichtungsprozessen, ohne das kein schöp¬
ferischer Vorgang vorstellbar ist, ausgeklammert.

Wichtiger als die Beziehungsmöglichkeiten durch eine angenommene Uni¬
versalsprache der Poesie, ja sogar die maßgebende Voraussetzung für die
Qualität der poetischen Neuproduktion, ist daher vielmehr die individuelle
Aufnahme- sowie An- und Enteignungsfähigkeit des fremden Produkts von
einem Dichter, wodurch die Möglichkeit seiner organischen Ein- und Zuord¬
nung in das neue CEuvre bzw. in die komplizierten Entwicklungsprozesse der
individuellen Schöpfungstätigkeit des Nachdichters geschaffen werden.

Anlagen zu so einem Zugang zu Miklös Radnöti hatte bisher vor allem sein
erster deutscher Nachdichter, Franz Fühmann. Er ist der einzige Deutsche,
der die Friedensbotschaft des Ungarn nicht bloß verstanden, begriffen und
bewundert hat. Sie war für ihn auch nicht nur Träger von authentischen poe¬
tischen Strukturen, sondern sie wurde von ihm im wahrsten Sinne des Wortes
aufs Tiefste nachempfunden.

Auch Markus Bieler, der Schweizer Übersetzer eines Radnöti-Bandes, war
ein Dichter. Aber bei aller Anerkennung war der von „Ehrfurcht diktierte Bei¬

34 Fihmann, Zweiundzwanzig Tage, S. 130-131.