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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE Die Radnöti’sche Katharsis wird aber auch mit dem Gegensatz zwischen Thema und Form untermauert: Ein nahezu unendlicher Bogen der Antithese spannt sich zwischen der alles zersetzenden amorphen Formlosigkeit der barbarischen Umwelt und Wirklichkeit und den künstlerisch gebundenen und geschlossenen Formen zweitausendjähriger europäischer Kultur, im Alexandriner des Gedichts Ich kann nicht wissen ebenso wie auch in der Eklogen-Gattung mit ihren Hexametern, in der volkstümlich verspielten rhythmisch-melodischen Grundlinie der Wurzel und in der formalen Anlehnung an die deutsche mittelalterliche Klassik, an die von Radnöti bereits ungarisch nachgedichtete Elegie von Walther von der Vogelweide im Gewaltmarsch. * Die kathartischen Spannungen der Friedensbotschaft Radnotis galten kiinftigen Zeiten, und die Poesie, die er in den elf Jahren vor Kriegsende schuf, markierte danach einen möglichen neuen Anfang. Sie wurde in ihrer künstlerischen Substanz seither zum Eckstein der Läuterung und der Erlösung von allem Schlechten, Widerwärtigen und des Menschen Unwürdigen, auf den man Neues aufbauen konnte und der sich gleichzeitig als Träger eines neuen unbeirrten Maßstabs politischen und moralischen Verhaltens erwies. Dass diese Botschaft von ihren ungarischen Adressaten als poetische Spitzenleistung empfangen wurde, ist selbstverständlich. Ihre deutschsprachige Aufnahme bedurfte erst der Überwindung der Sprachbarriere und vor allem künstlerisch adäquater Nachdichtungen. Bis dahin mussten allerdings mehr als zwanzig Jahre vergehen. Was davor für seine deutsche Vermittlung geschah, war schon seinerzeit bedeutungslos. Zu Lebzeiten des Dichters erschien z. B. eine deutschsprachige Anthologie der ungarischen Lyrik zwischen 1914 und 1936,” für die vorerst nur aus den Gedichten der frühesten Anfänge ausgewählt werden konnte'®. Die verständlichen und an sich lobenswerten Vorsätze der Ungarn, die Radnöti-Gedichte den deutschen Lesern zu vermitteln, schlugen vor und nach 1945 notwendigerweise fehl. Das schwache Ergebnis konnte nur dieum 1920 mehrmals wiederholte These von Robert Gragger erhärten, nach der die deutsche Übertragung ungarischer Gedichte von Ungarn nur zu „sehr mangelhaften Übersetzungen“ führen konnte, von denen viele wie „ungewollte Parodien“ anmuten, ja sich sogar als „Zerrbilder“ erwiesen, deren Verfasser „selbst mit den Regeln der deutschen Grammatik nicht vertraut“ waren.'? 1 a Ebd., [Gyökér], S. 84. Ungarische Lyrik. 1914-1936. Ins Deutsche überrtragen von Lajos Bräjjer. Budapest: R. Gergely Verlag, o. J., 111 S. Radnöti, Miklös: Grüsset die Sonne [Köszöntsd a napot]. In: Ungarische Lyrik 1914-1936, S. 86-87. Das ungarische Original entstand 1929. Mehr über den Inhalt dieses Gragger-Textes siehe in diesem Band den Kapitelteil unter dem Titel „Die Rezeptionsoffenheit der Ungarn für die deutsche Literatur der Goethezeit“ (Tendenzen und Begegnungen, Abschnitt 3, S. 275-279). Über den Verfasser siehe den Beitrag 1 S 1. 60 1 © + 250 +