sofort von ihrer einmaligen lyrischen Aussagekraft mitgerissen zu werden,
ohne dabei die Wellenlänge der nur ihm eigenen poetischen Attitiide im min¬
desten zu verfehlen. Das ungeklärte Rätsel ist daher nicht das Radnöti-Gedicht
an sich, sondern das Geheimnis dieser selbstverständlichen Zugänglichkeit
sowie der seit über vier Jahrzehnten noch heute währenden, zur Zeit sogar
sowohl in Ungarn als auch über die Sprachbarrieren des Ungarischen hinaus
im ganzen europäischen Raum ständig zunehmenden Wirkung. Dies Rätsel
ist umso größer, da man in Radnöti einem echten ‚poeta doctus‘ begegnet.
Denn - abstrahiert man den Begriff der Gelehrtenpoesie — so kann kaum
etwas mehr einleuchtend sein, als dass sie auch vom Rezipienten so manchen
Lernprozess abverlangt, und dann müsste sie folglich zumindest so Einiges an
Breiten- und Dauerwirkung einbüßen.
Der heute so wirksame Radnöti war nämlich gelehrt und belesen wie we¬
nige, er war mit der europäischen Dichtkunst von ihren Anfängen an aufs
Engste vertraut, seine ungarischen Nachdichtungen von Sappho, Horaz, dem
Kürenberger, Walther von der Vogelweide, Johannes Hadlaub, Ronsard, du
Bellay, Chenier, Goethe, Schiller, Hölderlin, Shakespeare, Blake, Byron, Shel¬
ley, Keats, Mörike, Nerval, G. Keller, C. F. Meyer, Mallarme, Rilke, Appolinai¬
re, Brecht u. a. stehen neben denen von Ärpäd Töth an der Spitze der ungari¬
schen Nachdichtungskunst. Verpflichtet den nationalen Traditionen der
ungarischen Poesie, insbesondere den neuesten Tendenzen, schrieb er wissen¬
schaftlich fundierte Studien — u. a. über Milän Füst, einen Bahnbrecher mo¬
derner ungarischer Dichtkunst, eine heute noch anregende Dissertation über
Margit Kaffka, wobei es nicht allein um die Person, sondern jeweils vor allem
um die Entschlüsselung des Wesens der modernen ‚ars poetica‘ ging — und
schließlich versuchte er als Gelehrtendichter im wahrsten Sinne des Wortes
anfangs sogar, seine eigene Individualität als Dichter zu unterdrücken, um den
Anschluss an die modernste Poesie in Europa und in Ungarn mit allen ihren
Ismen und avantgardistischen Tendenzen zu finden. Radnöti fand diesen An¬
schluss und die nur ihm eigene poetische Sprache bereits mit 21 Jahren in
seinen ersten drei zwischen 1930 und 1933 veröffentlichten Gedichtbänden.
Lebensfreude, jugendlich stürmische Gelöstheit bis zur zarten Hingabe seiner
selbst im idyllischen Liebeserlebnis verwoben sich darin mit einem ständig
offenen und zunehmenden Interesse für soziale und politische Fragestellungen
allgemeiner und persönlicher Art zu einer Einheit, die mit der Form- und der
Aussagewelt keines anderen zeitgenössischen Dichters zu verwechseln ist.
Die poetisch-weltanschauliche Grundeinstellung dieser Jahre wirkte in der
reifen Dichtung Radnötis eigentlich in vieler Hinsicht fort: Zumindest ließ er
die düstere Palette der neuen grauenerregenden Thematik der barbarischen
Gegenwart, u. a. der Vorahnungen seines Martyriums, poetisch immer wieder
mit der Metaphorik der Daseinsfreude, des inneren Friedens und der allmäh¬
lich gefestigten Engagiertheit der frühen Lyrik kontrastieren. Die Wende in