LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE
Im drei Jahre später geschriebenen Gedicht mit dem Titel Rundfunk?ver¬
mittelt die schnoddrig, süß, berauscht und hämmernd heulende Tonflut der
modernen kosmopolitischen Jazzmusik ein dekadent betäubendes Lebensgefühl
und kulminiert schließlich am Gedichtende über Bezugnahmen zum letzten
Trommeln, den Trommelschlägen der Exekution, in Vorahnungen eines be¬
rauschten Totentanzes der Menschheit. Welch andere Töne sind hier zu hören
als das „lila Lied“ des Schlipses in einem Schaufenster des Großstadtmorgens
in der par excellence impressionistischen Bilderreihe des vorigen Gedichtes!
Tatsächlich zerschellen auch darin sämtliche fein gewebte Farben, Töne und
Lichtspiele am plötzlich einbrechenden schrillen Tageslärm. Doch stieg auch
noch da das poetische Wunder in der Begegnung des „Mädchens vorm Werk¬
tor“ mit dem Glanz der „Sonne“ auf, das zwar „niemand sah“, aber dank diesem
Hinweis wir Leser, doch alle in geheimer Vertrautheit mit dem Dichter mit¬
erleben konnten. 'Ihematischen Kontrapunkt nennt man diese Art Spannun¬
gen lösende Harmonie in einem Kunstwerk.
Nichts dergleichen gibt es im Rundfunk. Die technische Errungenschaft
eröffnet das synchrone Erlebnis der Welt, bei deren poetischer Reflexion Ärpäd
Töth sich plötzlich in den Grenzbereichen des Impressionismus und des Ex¬
pressionismus befindet. Der tosende Rausch - lähmend und aufwühlend —
überflutet die Welt mit betäubenden „Röcheln“, „Schreien“ und „Flüchen“ vom
Indus bis Kongo, vom „Schottendudelsack“ bis „Asiens Kulis,“ von „russischen
Steppen“ bis „des Magyarenlands verwaiste Felder“.*!
Das Globale vermittelt dabei mit seiner grauenvollen Kakophonie nur Schau¬
er erregendes Durcheinander, im dröhnenden Lärm herrscht unüberwindbar
nur noch beängstigende Einsamkeit. (Der entsetzliche Trommler erinnert
dabei an das poetische Trommlerbild im deutschen Gedicht von Fühmann Die
schwarzem Zimmer*? und an das entsprechende Bild von Carl Hofer.)
Rundfunk
Ich hab die Kopfhörer des Radios aufgesetzt,
Da auf der Straße schon der Abend endet.
Dunkel ist auch mein Herz. Doch lausche jetzt:
Irgendein Jazz von fern her wird gesendet.
Toth, Arpad: Rundfunk [Radio]. Ubers. v. Andreas Karpati. In: ebd., S. 60 f.
Zur ungarischen Anwendung dieses Begriffs siehe Anm. Nr. 25. im Kap. „Kosmische Metaphern
der verlorenen Zuversicht ...“
Letztes Bild im Ungarischen mit dem Attribut ‚csonk‘ [dt. verstümmelt] ist an dieser Stelle
— wie in vielen anderen Gedichten von Árpád Tóth nach 1920 - ein deutlicher Hinweis auf
Ungarns Nachkriegslage.
Fühmann, Franz: Zu drei Bildern Carl Hofers. In: Gedichte und Nachdichtungen. Rostock:
Hinstorff Verlag, 1978, S. 22 f.