LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE
Atem zu genießen? — Die Frage würde man im Zusammenhang mit Ady, Babits,
Jözsef oder Radnöti bestimmt nicht stellen. Was Ärpäd Töth mit seiner Poesie
macht, ist ein Wagnis für einen Dichter. Ist man aber für feingewebte poetische
Strukturen ohne dröhnend schallende Lautstärke offen, so wird man mit
Staunen feststellen: Diese leisen Töne können erschütternd wirken. Je ge¬
dämpfter nämlich die „Energien“ dieser Dichtung zur Geltung kommen, ohne
dabei die kritische Grenze zum Sentimentalismus zu durchbrechen, umso
stärkere Affekte können im Leser hervorgerufen werden. Auch die „Schwäche“
— ist sie ästhetisch zugänglich gemacht - kann produktiv wirken. Mit Füh¬
manns Worten kann, „jedes Gefühl [...] soziale Energien [...] stärken und aus
jedem Gefühl, wenn es nur ehrlich und stark empfunden wird, kann starke
und ehrliche Literatur wachsen, die allein schon eine soziale Tat ist.“
Zu den Eigenarten Töth’scher Dichtung gehören ohnehin sein äußerst hoch¬
gradiges Poesieverständnis, das er so manchen ungarischen und europäischen
Gedichten entgegengebracht hat, andererseits die minutiöse Handhabung
seiner unvergleichbaren sprachlich stilistischen, lautmalerischen und verstech¬
nischen Fertigkeiten. Zwei Eigenschaften, welche die eigene und selbstständi¬
ge lyrische Produktion gewiss nicht leicht machten, durch die er aber gleich¬
zeitig an die absolute Spitze der Kunst der ungarischen Nachdichtung aller
Zeiten gelangte.
Mit der nachdichterischen Tätigkeit begann er um 1910, also unmittelbar
nach den vorhin gehörten Gedichten. Er übersetzte vorwiegend aus dem Fran¬
zösischen, Englischen und Deutschen. Wenn wir heute seiner gedenken, und
nun ihn in deutschen Nachdichtungen hören, so glaube ich, dürften aus der
Würdigung seine künstlerisch vollendeten Gedichtübertragungen aus der
europäischen Literatur keineswegs ausgeklammert werden, so schwer es auch
fällt, seine bravourösen sprachlichen Leistungen — natürlich in ungarischer
Sprache — vor einem deutschen Publikum nachempfinden zu lassen. Arpad
Toth war bei der Ubersetzung im Inhalt, Stimmung und Form dem originalen
Werk so treu wie nur wenige. Er vermochte dabei mit seinem einzigartigen
Einfühlungsvermögen in die fremde poetische Substanz und mit seiner ganz
spezifischen empfindungsvollen Dichtersprache und Wortwahl sowie Vers¬
technik ein echter Mitgestalter des jeweiligen Gedichtes zu sein und dem
Gedicht immer eine Art Töth’sches Gepräge zu verleihen, wodurch dies ohne
jede grobe Verletzung des bewunderten schönen Originals gleichzeitig auch
ein Töth-Gedicht wurde. Etwas Ähnliches erlebte ich, als ich Fühmann-Über¬
setzungen der Radnöti-Gedichte las. Das fremde Gedicht wurde also nicht nur
° Fühmann, Franz: Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens. Leipzig: Reclam, 1986, S.
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