LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE
u. a. auch die Bedeutung der frühen Schillernachdichtungen von Janos Kis her¬
vorhob. Gragger setzte damals voraus, dass Kis dazu vor allem von Ferenc Ka¬
zinczy veranlasst wurde. Erst später, in Kenntnis der Erinnerungen von Kis’ und
auf Grund einer eingehenden Beschäftigung mit der Korrespondenz zwischen
Kis und Kazinczy® sowie durch die aufmerksame Lektüre der Poesie des ungari¬
schen Dichters musste Gragger jedoch vermuten, dass Jänos Kis im Rahmen der
Rezeptionsgeschichte der deutschen Literatur in Ungarn nicht nur als Schiller¬
Übersetzer eine beachtliche Rolle gespielt hatte, sondern seinerzeit vielmehr
eine äußerst wichtige Schlüsselfigur bei der Verbreitung von Ideen und gängigen
Formen der deutschen Dichtung um 1800 gewesen war.
Hinzu kommt, dass Jänos Kis — wie damals üblich — die deutschen Quellen
seiner Lyrik kaum verzeichnete, mögen sie nur den Anlass zu einem ungari¬
schen Gedicht gegeben haben oder eben Vers für Vers nachgedichtet worden
sein.
Wir [Kazinczy und Kis] - schrieb darüber Jänos Kis - [L. T.] — dachten vielleicht,
dass der gelehrte Teil der damals noch wenigen Leser die unter den kundigen
Männern geläufigen Stücke deutscher und anderer Dichter ohne jeden Nachweis
erkennen musste. Oder aber konnten unter den damaligen Zuständen [...] Gedich¬
te wie die meinen nur mit jungen Lesern rechnen [...], die sich über die Quellen
keine Gedanken machten [...]. Ich hatte schon immer die Gewohnheit, die mich
ergötzenden Stücke in meine Muttersprache zu übersetzen und sie [...], wenn ich
davon für meine Landsleute einen Nutzen erhoffte [...] zu veröffentlichen |[...]. Aber
sollte sich jemand mit dieser Erklärung nicht zufrieden geben, möchte ich noch
einmal klarstellen, ich hielt mich nie für einen originalen Dichter [...] und dass ich
in meinen gebundenen und nicht gebundenen Arbeiten entweder andere über¬
setzte und ihnen nacheiferte oder mich auf sie stützte. Die Nachahmung fehlte
nicht in meinen Stücken, die ansonsten gewöhnlich für original gehalten werden."
Obwohl der Literaturhistoriker Ferenc Toldy bei der Veröffentlichung der Ge¬
dichte von Jänos Kis im Inhaltsverzeichnis so manches von der jeweiligen
Kis János szuperintendens visszaemlékezései életéből [Erinnerungen des Superintendenten
Janos Kis aus seinem Leben]. 2. Aufl. Budapest: Franklin-Társulat, 1890, 703 S. Die erste Auf¬
lage der Erinnerungen erschien noch zu Lebzeiten des Dichters im Jahre 1842.
Kazinczy Ferencz levelezése [Die Korrespondenz von F. K.]. 22 Bde. Hg. v. Vaczi, Janos u.
Harsányi, István. Budapest: Magyar Tudományos Akadémia [Ungarische Akademie der Wis¬
senschaften], 1890-1927. Die Marginalien belegen, dass Gragger mit den Bänden der kritischen
Ausgabe der umfangreichen Kazinczy-Korrespondenz vertraut war.
Die Schiller-Gedichte „An die Freude“, „Die Ideale“, „Der Gang nach dem Eisenhammer“, „Der
Ring des Polycrates“ wurden von Jänos Kis bereits vor dem Ende des 18. Jahrhunderts über¬
setzt. Somit entstanden die ungarischen Nachdichtungen der letzten drei Gedichte 1-5 Jahre
nach ihrer deutschen Erstveröffentlichung.
Kis János szuperintendens visszaemlékezései [Erinnerungen des Superintendenten Jänos Kis
aus seinem Leben], S. 497-498. (Übersetzung L. T.).