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VERSUCH EINES PORTRATS DES ROBERT GRAGGER

Bei allen großen Erfolgen auf einem Gebiet, auf dem zu wirken selbst seine
schönsten Jugendträume übertraf, blieb er stets ausgeglichen, selbstsicher und
zufrieden. Das sind Eigenschaften, die — durch das kathartische Erlebnis der
sinnvollen und erfolgreichen Arbeit entstanden - für die erneute Sammlung
der Kräfte und den wiederholten Einsatz der ganzen Persönlichkeit sorgten,
ohne dass er sich dabei körperlich und geistig auch nur im geringsten aufrieb.
Sein früher Tod war ein Zufall; die Hirnhautentzündung war damals noch
eine unheilbare Erkrankung.

Robert Graggers Ergebnisse in Wissenschaftsorganisation und Forschung
sowie in der beiderseitigen Vermittlung der ungarischen und der deutschen
Kultur waren neben seiner außerordentlichen Begabung, seinen besonderen
Fähigkeiten und seiner charakterlichen Eigenart zu verdanken. Von letzterer
weiß man heute am wenigsten. Seine Schriften, die persönlichen Briefe und
Notizen, ja selbst sein Porträt, soviel Sympathie es auch auszustrahlen vermag,
verraten darüber kaum etwas. Wir verfügen nur über einige Urteile der Zeit¬
genossen. Über seine besondere Anziehungskraft, die zu den Erfolgen des in
Berlin als Ausländer tätigen Institutsdirektors ganz gewiss beitrug, schrieb
Carl Heinrich Becker, damals preußischer Kultusminister, mit dem Gragger
eng befreundet war, folgende Worte des Nachrufs:

Wir [...] standen unter dem Eindruck seiner besonders lebendigen, ja geradezu
suggestiven Persönlichkeit. Er hätte in so kurzen Jahren nicht so Großes schaffen
können, wenn er nicht einen Zauber besessen hätte, der ihm die Menschen zur
Mitarbeit willig gemacht hätte. Worin bestand sein Zauber? ... Gewiss, die Natur
hatte ihn von Haus aus gütig bedacht, ihm ein angenehmes Äußeres, eine natür¬
liche Grazie verliehen. Sein leuchtendes Auge, sein elastischer Gang, sein sportlich
durchgebildeter Körper, seine lebhafte Art hatten etwas Einnehmendes, aber der
Körper ist nur immer ein Gefäß, in dem die eigentlich wirkenden Kräfte verborgen
sind. War es sein lebhafter Geist, sein oft glänzend schillernder Intellekt, der ihm
die Herzen gewann? Er besaß eine hohe Kultur, war fein gebildet, sprach acht bis
zehn lebende Sprachen, war ein glänzender Debatter, in allen Sätteln gerecht [...],
überall hatte er Freunde, Beziehungen, Erinnerungen. Er war sehr anpassungsfähig;
man konnte ihn unter die engsten Fachkollegen setzen oder unter anspruchsvolle,
elegante Damen, man konnte ihn im Refektorium ungarischer Klöster, am Herd¬
feuer von Jugendbünden, im Salon der Diplomaten oder sonst wo beobachten,
immer wirkte er, als ob gerade dies das ihm genehme Milieu wäre, als ob er nie

anderswo existiert hätte.°*

Auch das gehört zum Porträt von Robert Gragger, obwohl davon außer diesen
Worten nichts mehr gegenwärtig ist.

84 Becker, Robert Gragger, S. 19.

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