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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE schaftsgebiet Vortráge hielt. Auch dass er zu den gemeinsamen Mittagessen oft einen Professor von einer der Fakultáten einlud, hatte verbindende Kraft.? Es besteht kein Zweifel, dass die Unterzeichnung der Friedensbedingungen die gewachsene Bedeutung und die neuen Ziele des Collegiums in hohem Maße mitbestimmt hat. Wenn die Fachrichtung Ungarische Sprache und Literatur bereits früher schon zu einer Art Wissensbereich „Ungarologie“ erweitert wurde (wie man sie anfangs im Fachjargon nannte), so war von 1920 überhaupt nicht mehr die Ausbildung von einseitigen ungarischen Philologen das Ziel in Berlin. Die um den hohen Preis erworbene Unabhängigkeit von Österreich — schrieb er — habe Ungarn vor neue Probleme gestellt. Der unter den plötzlich eingetretenen Umständen selbstständig gewordene Staatsapparat bedurfte dringend erstrangiger Menschen mit Bildung, Experten mit Weitblick und besonderen intellektuellen Fähigkeiten, sowie Individuen mit besonderer Charakterstärke und moralischer Kraft.” Jänos Barta belegte diese Einstellung von Gragger mit den folgenden Worten: Als erim Zusammenhang mit meiner Aufnahme zum ersten Mal mit mir sprach, erklärte er, dass es (um einen heutigen Ausdruck zu benutzen) nicht Ziel des Kollegiums sei, Fachidioten heranzuzüchten, vielmehr sollten wir die deutsche Kultur, das geistige Leben im allgemeinen kennen lernen.”? Die weltoffene Bildung der in Deutschland (im Collegium Hungaricum) studierenden Ungarn und die umfassende Verbreitung der „Ungarologie“ (im Institut) unter den Deutschen, (ja seit der von Gragger angeregten Begründung des Bundes der Ungarischen Wissenschaftlichen Institutionen im Ausland im Mai 1925 bereits im ganzen Europa), dienten unmittelbar Ungarns Interessen. Auf diese Weise artikulierte er, ohne sein ureigenstes Terrain, jenes der Kultur verlassen zu haben, auch allgemeine politische Absichten. Ganz deutlich wurde dies in den einleitenden Worten seines Programms von 1921 zum Ausdruck gebracht: An der Schwelle einer neuen Welt, die aus den Trümmern und Verschiebungen des Vorkriegs-Europas ersteht, fühlt der Beobachtende und der Mitschaffende den Wunsch, die Grundlagen, die treibenden Kräfte des gegenwärtigen Geschehens zu erfassen. Wenn die Unkenntnis der Völker voneinander, daraus erwachsendes Misstrauen und geflissentliche Täuschung, wenn Selbstüberhebung und Unterschätzung der andern die Hauptursachen des hereingebrochenen Unheils waren, 3! Barta, Erinnerungen an Gragger, S. 11 f. » Brief aus Berlin an Kuno Klebelsberg, am 6. 10. 1925. Zitiert in Schneider, A Berlini Magyar Intézet és a Collegium Hungaricum [Ungarisches Institut zu Berlin und das Collegium Hungaricum], S. 24. ® Barta, Erinnerungen an Gragger, S. 12. + 188 +