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SCHILLERS LETZTE GEDICHTE IM KONTEXT ZEITGENÖSSISCHER DEUTSCHER LYRIK

lichkeit der Jahrhundertwende vor allem einen Abschied von Illusionen aus¬
löste. Ihre in der aufklärerischen Tradition wurzelnden Ideale waren für sie
mit den bewegten welthistorischen Ereignissen in keiner Weise zu vereinbaren.
Hoffnungen auf eine baldige Lösung der großen Probleme der Menschheit
erschienen daher unzeitgemäß. Vielmehr wurde die verletzte Weltordnung
mit Idealen saniert und poetisch kontrapunktiert, die von der Realität der er¬
lebten Gegenwart schließlich so weit wie möglich entfernt waren, mögen sie
nun in der Vergangenheit, in der Innenwelt des Individuums, in mystischen
Vorstellungen oder in der Poesie selbst gelegen haben. Gerade diese gegen¬
wartsfremden Iyrischen Positionen — so widerspruchsvoll das auch zu sein
scheint — aber waren mit den intensiven Wirklichkeitsbezügen der Dichter auf
das Engste verbunden. Auf der poetisch authentischen Erfassung der realen
Widerspruchsfelder beruhte der besondere Rang ihrer Werke. Die Gedichte
Schillers, Hölderlins, August Wilhelm Schlegels, Tiecks und Novalis’ wurzel¬
ten im Grunde genommen viel mehr in der Wirklichkeit der Entstehungszeit
und widerspiegelten auch prinzipiell wesentlich mehr davon als gleichzeitig
verfasste optimistische und lebensfrohe, jedoch bereits anachronistische Vo߬
und Gleim-Gedichte und vor allem mehr als die tagespolitisch aktuelle Dich¬
tung jener Jahre für und gegen Napoleon sowie die vielen franzosenfreundlichen
und franzosenfeindlichen Soldatenlieder bekannter oder unbekannter Zeit¬
genossen.” Die tradierten rationalen und sentimentalen poetischen Attitüden
aus dem 18. Jahrhundert, aus der Zeit zwischen Hagedorn und Hölty, konnten
um 1800 zwar Leserinteressen noch entgegenkommen, sie versandeten aber
wegen ihrer mangelhaften Wirklichkeitsbezüge und ihrer nunmehr puren
Unterhaltungsfunktion in den Niederungen der Trivialliteratur.

In diesem literarhistorischen Bezugsfeld nimmt Goethes Lyrik in jeglicher
Hinsicht eine Sonderstellung ein. Man begegnet darin weder der undifferen¬
zierten Weltzugewandtheit spätaufklärerischer Provenienz noch der gegen¬
wartsablehnenden Haltung der modernen Dichter.

®® Siehe in diesem Band Kap. „Wirklichkeit und Modelyrik um 1800“.