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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

Ganz áhnlich verband er auch in dem fast gleichzeitig geschriebenen Sonett
die Würdigung des „neuen Kunstgeschmacks“ und die der idealen Lebens- und
Verhaltensweise des tätig schöpferischen Menschen:

Denn eben die Beschränkung lässt sich lieben,
Wenn sich die Geister gar gewaltig regen;
Und wie sie sich denn auch gebärden mögen,
Das Werk zuletzt ist doch vollendet blieben.?!

Die intertextuellen Beziehungen dieses Goethe-Gedichtes zu den folgenden
Terzinen des Friedrich-Schlegel-Sonetts Betrachtung aus dem Jahre 1803 ver¬
deutlichen eher die hochgradigen Divergenzen im Gehalt der hochklassischen
und der frühromantischen Dichtung als irgendwelche typologischen Paralle¬
litäten:

So bleibt Beschränkung gern in tiefem Frieden;
Wie draußen ach, die wilden Stürme toben,
Es lockt die stille Welt dazu verweilen.

Den kühnern Geist hat immer Ruh vermieden,
Willsinnend auch Gefühl die Stille loben,

Er muss auf wildem Flügel weiter eilen.??

Im Friedrich Schlegel-Gedicht spannt sich ja in krassem Gegensatz zu dem
des Goethe-Sonetts gerade die unaufhaltsam auseinanderstrebende Antithese
zwischen der Innen- und Außenwelt der „kühnern Geister“, und mit dem
letzten Vers der Betrachtung wird gerade die von Goethe seit dem ersten
Weimarer Jahrzehnt nicht mehr vertretbare, in dessen Sonett auch wörtlich
entschieden abgelehnte (diesmal bereits selbstverständlich nicht mehr dem
Sturm und Drang, sondern der Frühromantik verpflichtete) „Ungebundenheit“
zum neuen Ideal erhoben.

Durch diese jahrzehntelang erarbeitete Grundposition war Goethes Welt¬
anschauung sämtlichen Spannungen und Kontroversen zwischen Vergange¬
nem und Gegenwärtigem im sozialhistorischen und ideologischen Gefüge
gewachsen.

Typisch für den weitaus größten Teil moderner und literaturgeschichtlich
repräsentativer Dichter aber war, dass der unmittelbare Zeitbezug zur Wirk¬

% Goethe: Das Sonett (entstanden 1800, erschienen 1807), Berliner Ausgabe, Bd. 1, S. 465.
(Hervorhebung L. T.).

®2 Schlegel, Friedrich: Betrachtung. In: Friedrich Schlegel. Kritische Ausgabe seiner Werke. 22
Bände. Hg. v. Ernst Behler. Paderborn / München / Wien: Verlag Ferdinand Schöningh.
1959-1981, Bd. 5: Dichtungen. Hg. v. Hans Eichner, ebd., 1962, S. 171.

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