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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

Die gesamte Widerspruchsmetaphorik der modernen Poesie enthielt auf diese
Weise in ihrem innersten Kern die konseguent wirklichkeitsbezogene Über¬
zeugung, dass eine reale Chance des Fortschritts zur Humanität im sozial¬
historischen Gefüge der Zeit kaum mehr auszumachen war. So versuchte man
selbstverständlich in der Dichtung das tradierte aufklärerische Weltbild zu
korrigieren und die verlorenen Werte durch neue zu ersetzen. Dazu wurde
man zwar im ständigen Konfrontationsprozess mit der Umwelt jeweils von der
Gegenwart und der erlebten Wirklichkeit inspiriert, trotzdem mussten die
gewonnenen neuen Werte notwendigerweise außerhalb dieser aktuellen Phä¬
nomene liegen, so u. a. in der Vergangenheit, in der Poesie, im Subjekt des
Dichters oder eben im Jenseits.

Die kritische Distanz von der erlebten Wirklichkeit, insbesondere von ihren
messbaren Werten in Raum und Zeit, wurde in der poetischen Metaphorik
dieser modernen Dichtung zunehmend größer: „Zu was Besserm sind wir ge¬
boren“ pulsierte 1797 noch der Zukunft zugewandt Schillers Hoffnung.“*
Dieses Bessere verklärte sich nach 1800 zum „Wunderland“ der Poesie (Sehn¬
sucht, 1801), verschwand im „nirgends und nie“ (An die Freunde, 1802), floh
in „die kleinste Hütte“ (Der Jüngling am Bache, 1803), „in des Herzens |...]
stille Räume“ (An ***, 1801) und ließ schließlich Visionen von unüberbrück¬
baren Spannungen zwischen „Erde“ und „Himmel“, Endlichem und Ewigem
aufkommen, wie man ihnen auch in den Schlussstrophen des 1803 verfassten
Pilgrim begegnet":

Hin zu einem großen Meere
Trieb mich seiner Wellen Spiel
Vor mir liegts in weiter Leere,
Näher bin ich nicht dem Ziel.

Ach, kein Steg will dahin führen,
Ach, der Himmel über mir

Will die Erde nie berühren,

Und das dort ist niemals hier.

Das möglicherweise von Karoline von Günderrode verfasste Gedicht‘ hebt
bereits mit dem Vakuum-Erlebnis an, mit dem Schillers Gedicht ausklingt:

48 Schiller, Friedrich: „Hoffnung“ (1797), Berliner Ausgabe, Bd. 1, S. 419 f.

® Schiller, Friedrich: „Der Pilgrim“, Berliner Ausgabe, Bd. 1, S. 529 f. (Hervorhebungen L. T.)

°° Giinderrode, Karoline von: Sämtliche Werke und ausgewählte Studien. Historisch-kritische
Ausgabe. 3 Bde. Hg. v. Walter Morgenthaler. Basel / Frankfurt am Main, 1990-1991, Bd. 1, S.
454. Verfasserschaft unsicher, siehe ebd., Bd. 3, S. 281-284.