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SCHILLERS LETZTE GEDICHTE IM KONTEXT ZEITGENÖSSISCHER DEUTSCHER LYRIK braucht dabei nur an Lieder in den Bánden Des Knaben Wunderhorn und ganz besonders an Gedichte der schwábischen Schule um Ludwig Uhland zu denken). Auffallend ist überhaupt wie auf diese Weise der Zeitbegriff in den poetischen Reflexionen um die Jahrhundertwende plötzlich relativiert wurde. Wo die Konturen der Zeitgrenzen sowie der zeitlichen Veränderungen früher scharf umrissen waren, wo man einst die Welt und das Leben zwischen Vergangenheit und Zukunft noch als vielverheißende und ununterbrochen zum Besseren fortschreitende Realität begriff, kam alles schlagartig in die Schwebe. Das führte zu einem Paradigmenwechsel in der literaturhistorisch repräsentativen Poesie, der die modernen Dichter unmittelbar vor und nach der Jahrhundertwende trotz ihrer vielfältig auseinanderstrebenden individuellen ästhetischen Normen miteinander verband, gleichzeitig aber von den Lyrikern der Spätaufklärung (z. B. Voß und Gleim) und der Trivialdichtung (z. B. Müchler) deutlich trennte. Unter den modernen Aspekten verloren die früheren Beziehungen zwischen Fortschritt und Zeit ihren Sinn genauso wie die Zeit als objektiv bestimmbares und messbares Phänomen glückverheißender und nutzbringender Veränderungen in einer Welt, die von dem Menschen unabhängig existieren soll und in der der Mensch zu leben habe. Wenn dabei überhaupt noch irgendwelche realen Zukunftsbilder mit der Zeit in Verbindung gebracht werden sollen, so geht es nicht mehr um den ersehnten Aufstieg der Aufklärer, die Metaphern der neuen Sicht „leiten“ einen nur noch „abwärts“: Wilhelm Heinrich Wackenroder gehörte zu den ersten deutschen Romantikern, der diese moderne Sicht sowie die Fragwürdigkeit des alten Zeitverständnisses bereits vor der Jahrhundertwende seinen Lesern in poetischer Form nahelegte: So wandelt sie, im ewig gleichen Kreise Die Zeit nach ihrer alten Weise, Auf ihrem Wege taub und blind, Das unbefangne Menschenkind Erwartet stets vom nächsten Augenblick Ein unverhofftes seltsam neues Glück, Die Sonne geht und kehret wieder, Kömmt Mond und sinkt die Nacht hernieder, Die Stunden die Wochen abwärts leiten, Die Wochen bringen die Jahreszeiten. Von außen nichts sich je erneut, In dir trägst du die wechselnde Zeit, In dir nur Glück und Begebenheit.” 17 Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst. In: Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Dichtung, Schriften, Briefe. Hg. v. Gerda Heinrich, Berlin: Union Verlag, 1984, S. 341 f.