LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE
Wirklichkeit gesetzten Ideen und Metaphern - so unterschiedlich sie thema¬
tisch und so divergierend sie im individuellen Grad und Ausmaß ihrer Span¬
nungen sein mochten — waren gleichermaßen charakteristisch für die Lyrik
von Schiller, Hölderlin, Tieck, A. W. Schlegel, Novalis und dem jungen Bren¬
tano. Im Grunde gibt es ja kaum wesentliche Unterschiede zwischen dem
Gedichtausklang von Schillers Der Jüngling am Bache von 1803 („Raum istin
der kleinsten Hütte / Für ein glücklich liebend Paar.“)* und den Tieck-Versen
aus der Schönen Magelone:
Beglückt wer vom Getümmel
Der Welt sein Leben schließt,
Das sonst in dem Gewimmel
Verworren abwärts fließt.*?
DER RELATIVIERTE ZEITBEGRIFF UND DER ENTLEERTE RAUM
Die Heraufbeschwörung der Vergangenheit schuf, ob es das Mittelalter oder
die Antike war, die Möglichkeit, die beabsichtigten Distanzen zur befremden¬
den Gegenwart auszudrücken. So sind die vielfach variierten Worte Tiecks
„Rückwärts flieht das zage Bangen / Und die Muse reicht die Hand“ oder ,,Und
Zukunft wird Vergangenheit“ sowie August Wilhelm Schlegels „Vergangen¬
heit muss unsre Zukunft gründen / Mich soll die Gegenwart nicht halten“
ihrem weltanschaulich-poetischen Ursprung nach bei allen individuellen Dif¬
ferenzen eng miteinander verwandt. Aber auch Schillers damalige Vergangen¬
heitsthemen, etwa Der Grafvon Habsburg und die bereits angeführten Antike¬
Gedichte, sind mit der Vergangenheitsorientierung der Frühromantiker bei
allen individuellen weltanschaulichen Unterschieden typologisch eng verbun¬
den. Und so wenig es für Schiller charakteristisch war, so legte er — unmittel¬
bar nach Beendigung der christlichen Wunderballade Der Grafvon Habsburg
— seinem vor der Gegenwart fliehenden und sie verabscheuenden Pilgrim
Worte seufzender Sehnsucht nach dem unerreichbaren Höheren in den Mund.
Das Gedicht schrieb Schiller inmitten einer Zeit, als in der deutschen Lyrik
nach den vorerst wenig publikumswirksamen frühromantischen Ansätzen die
diesseitsentfremdeten Pilger, Nonnen und Eremiten ohnehin für Jahrzehnte
mit europaweiter Ausstrahlung in Mode zu kommen in Begriff waren. (Man
? Schiller, Friedrich: Der Jüngling am Bache, Berliner Ausgabe, Bd. 1, S. 528.
8 Tieck, Ludwig: Schriften, Bd. 4, S. 354.
“* Tieck, Ludwig: Sternbalds Wanderungen. Eine altdeutsche Geschichte. München, 1964, S. 57.
5 Tieck, Ludwig: Mondscheinlied, ebd., S. 175 f.
*© Schlegel, August Wilhelm: An die südlichen Dichter. In: Auswahl deutscher Gedichte, hg. v.
H. Kluge. Verlag Oskar Bonde, Altenburg: 1910, S. 560 f.