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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE Warum gabst du mir zu sehen, Was ich doch nicht wenden kann? Das Verhángte muss geschehen, Das Gefürchtete muss nahn. Frommts den Schleier aufzuheben, Wo das nahe Schrecknis droht? Nur der Irrtum ist das Leben, Und das Wissen ist der Tod.?? Nicht nur für Kassandra, auch für Schiller war zur Entstehungszeit der Ballade der Widerspruch zwischen scheinbarem und wirklichem Wesen des Lebens nicht zu lösen. Es ist schon typisch für seine spáte Lyrik, dass sich so von früheren Werten, Begriffen und Worten ins Gegenteil verkehrt. Aus den Worten des Glaubens werden in nur zwei Jahren Die Worte des Wahns, und Missklange untergraben im klassischen Siegesfest™ so gliickverheiffSende Begriffe, wie es z. B. der des Sieges ist. Die Begeisterung, die helle Freude dariiber, wird von Gefühlen der Angst und dunklen Vorahnungen sowie von der Verzweiflung der Besiegten überschattet. Denn was für eine Freude flößt einem ein Sieg ein, der mit dem Bild „Schutt und Haufen“ beginnt und in dem sich „in das wilde Fest“ — wie befremdend hier bereits das Attribut ist — der dissonante „Wehgesang“ der Besiegten mischt, u. a. mit Versen wie „Ach, wie glücklich sind die Toten!“ — „Böses muss mit Bösem enden“, — „Weil das Glück aus seiner Tonnen / Die Geschicke blind verstreut.“ Noch dunkler ist der Ausklang dieses „geselligen Liedes“; auch hier hat nämlich die Prophetin nur Unheil zu verkünden: Rauch ist alles ird’sche Wesen, Wie des Dampfes Säule weht, Schwinden alle Erdengrößen, Nur die Götter bleiben stet. Selbstverständlich schlägt hierauf die siegestrunkene Stimmung des Chors plötzlich um, sie wird von der Flüchtigkeit des Glücks und des Lebens, von der Perspektivlosigkeit überlagert: Um das Ross des Reuters schweben, Um das Schiff die Sorgen her, Morgen können wir’s nicht mehr, Darum lasst uns heute leben. 2 Schiller, Friedrich: „Kassandra“. Ebd., S. 523. ?* Schiller, Friedrich: „Siegesfest“. Ebd., S. 535-539. + 150 +