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SCHILLERS LETZTE GEDICHTE IM KONTEXT ZEITGENÖSSISCHER DEUTSCHER LYRIK

er z. B. auch 1803 in Sehnsucht." Mit ganz ähnlicher Konsequenz schloss er
gleichzeitig Die vier Weltalter, und sogar im für das gemütliche Weimarer
„Mittwochkränzchen“ geschriebenen geselligen Lied An die Freunde" von
1802 wurde die befremdliche Wirklichkeit der Gegenwart und der Umwelt
thematisch mit dem Ideal des „nie und nirgends“ Geschehenen kontrapunktiert:

Neues hat die Sonne nie gesehn.

Sehn wir doch das Große aller Zeiten
Auf den Brettern, die die Welt bedeuten,
Sinnvoll, still an uns vorübergehn.

Alles wiederholt sich nur im Leben,
Ewig jung ist nur die Phantasie,

Was sich nie und nirgends hat begeben,

Das allein veraltet nie!

Mit diesen Schiller-Worten wird der Boden der an der Wirklichkeit haftenden
aufgeklärten Utopien'” verlassen, und der Spielraum des literarischen Fingie¬
rens!? bzw. der „triadischen Wechselbeziehungen von Realem, Fiktivem und
Imaginärem“!* erweitert sich bis zum Unendlichen. — Damit wurden aber auch
wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung einer modernen Lyrik bereits
in der poetischen Praxis geschaffen.

Gleichzeitig stellt sich die Frage: Gibt es überhaupt Lyrik ohne Spannungen
zwischen dem Subjekt und dem Objekt, ohne vorhandene Brüche zwischen
dem „Ich“ und der Außenwelt? Ich neige dazu, diese „Brüche“ als substanziel¬
le Voraussetzungen lyrischer Kunst anzuerkennen, unabhängig davon, ob das
lyrische Sprachkunstwerk alt oder neu, klassisch oder modern ist, von Sappho,
Klopstock, Hölderlin oder Schiller verfasst wurde. (In diesem Sinne argumen¬
tierte auch Milan Füst [1888-1967] einst in seinen Budapester Universitäts¬
vorlesungen mit besonderem Nachdruck dafür, dass jedwede Kunst bzw. deren
Erlebnis prinzipiell aus „grenzenloser Korrektur“ des „unbefriedigenden Le¬
bens“ bestehe.)!5

Lyrik mit oder ohne „Brüche“ dieser Art hieße für mich darum eher dis¬
junktiv Dichtung oder Kitsch, Kunst oder (nur) Mode, ästhetisches Erlebnis

1% Schiller, Friedrich: Sehnsucht, Berliner Ausgabe, Bd. 1, S. 507.

1 Schiller, Friedrich: An die Freunde. Ebd., S. 517-519. (HervorhebungLL. T.)

2 Vgl. W. Iser: „[...]in der Utopie geschieht immer die Extrapolation der Möglichkeiten aus dem,
was ist.“ In: Iser, Wolfgang: Fingieren als anthropologische Dimension der Literatur. Konstanz:
Universitätsverlag, 1990, S. 29.

13 Ebd., S. 28.

4 Siehe Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropo¬

logie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1991, S. 19-23.
15 Füst Milán: Látomás és indulat a művészetben [Vision und Emotion in der Kunst]. Budapest:
Akadémiai Kiadó, 1963, S. 62-68.

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