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WIRKLICHKEIT UND MODELYRIK UM 1800 In einer nachfolgenden Strophe des gleichen Gedichts fragt man sich sogar, ob es um 1800 nicht geradezu um eine Parodie dieses gehaltstypologischen Genres geht: Am Abend denkt man: Wohl geschafft! Und freuet sich der Folg’ im Schlafe; Der Morgen weckt uns, frisch an Kraft, Zum Werk der Freude, nicht der Strafe! Und schließlich begegnet man sogar erneut der Lafontaine-Hagedorn’schen Welt in der Art, wie sie etwa Johann der Seifensieder einst die Leser nachempfinden ließ bzw. wie sie in den Merksätzen mancher Fabeln von Gellert um die Jahrhundertmitte bekannt wurde: Gliickselig macht nur Thatigkeit. Wie lang wird euch, ihr Müßiggänger, Wie peinlich lang die liebe Zeit! Wir wünschen Tag und Stunde länger. Selbst Ewig währt uns nicht zu lang, Bei rascher That und Lustgesang.” Selbst Experten der literaturhistorisch repräsentativen deutschen Lyrik würden wohl kaum denken, dass das Gedicht inmitten der sogenannten deutschen Hochklassik entstand und der Verfasser, der politisch-weltanschaulich stets engagierte Johann Heinrich Voß (nach Heine neben Lessing „der größte Bürger in der deutschen Literatur“'?), diese im Grunde genommen der deutschen Frühaufklärung verpflichteten Gedanken genauso ernst nahm wie sein „Heil Alexander“ in der Zarenhymne und etwa zehn Jahre davor seine Begeisterung für die Französische Revolution. Aber auch das echte Kleinbürgerlied von Christian Jacob Wagenseil mit dem Versanfang Arm und klein ist meine Hütte war um diese Zeit auf fliegenden Blättern weit verbreitet und geradezu zum Schlager geworden.'” Ästhetisch fragwürdig sind diese oder ähnliche Gedichte nicht unbedingt wegen des Anachronismus an sich, nicht einmal allein wegen der mitunter vollzogenen grundsätzlichen Wertverschiebungen bei den weltanschaulichen Idealen Wolff-Hagedorn’scher Prägung, die allmählich zum Inbegriff der Schlafmützenweisheit des Spießbürgers verkamen. Die poetische 77 Voß, Johann Heinrich: „Zur Arbeit“ (1801). In: Voß, J. H.: Werke in einem Band. Berlin / Weimar: Aufbau-Verlag, 1966, S. 280. (= BdK) 15 Heine, Heinrich: Die romantische Schule. In: Windfuhr, Manfred (Hg.): Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Bd. 8/1. Düsseldorf / Hamburg: Hoffman u. Campe, 1979, S. 144. 19 „Sechs schöne Lieder“ [darin:] „Das Dritte“. Arm und klein ist meine Hütte.“ In: Arien und Lieder, o. O. u. J. Weimar: Anna-Amalia-Bibliothek, Signatur: Dd, 3: 633, H. 3. s 139 +