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WIRKLICHKEIT UND MODELYRIK UM 1800

Bei der Umarbeitung des ursprünglichen Gedichtes beschäftigte man sich
freilich nur damit, was leicht zu verändern war. Wo die Veränderung von
manchen Konkreta - sogar verbunden mit komplizierteren stilistischen Wen¬
dungen - (wie z. B. in der 6. und 8. Strophe des originalen Liedes) etwas mehr
Anstrengungen gekostet hätte, da hat man lieber ganze Strophen gestrichen.
Man kann auch annehmen, dass auf die lustige siebte Strophe verzichtet wur¬
de, weil „Venus“ und „Cupido“ sowie die „Liebespfeile“ weder mit der Attitüde
noch mit dem Arsenal eines preußischen Kriegsliedes zu vereinbaren waren.
Wein und Liebe gehörten innerhalb der zeitgenössischen deutschen Trivial¬
poesie schon eher in die bereits anachronistisch gewordene Rokokolyrik oder
— falls man dabei das richtige Maß zu halten nicht bereit war - in die ewig
junge Studenten- und Vagantendichtung. Auch die vierte Strophe schien mit
dem revolutionären „ca ira“ für eine Umarbeitung vorerst unbequem gewesen
zu sein. Doch brauchte man wenigstens ihre feierliche Stimmung, wenn einmal
die politisch unangenehme Triumph-Strophe!* am Ende des revolutionären
Liedes (auch wegen der beiden sprachlich etwas komplizierteren Langzeilen)
geopfert werden musste. So entfernte man das gefährliche „ca ira“ aus der
vierten Strophe, und da es in revolutionären Zeiten beim jubelnden Tanz um
den Freiheitsbaum so oft gesungen wurde, tilgte man — unwillkürlich oder
bewusst — (wenigstens hier) auch das Jubeln und Singen und ersetzte sie mit
jauchzen und trinken. Merkwürdigerweise reimten aber selbst hier nach den
größten Eingriffen in das ursprüngliche Gedicht die Verse des neuen Liedes
auf die des alten.

POLITISCHE UNVERBINDLICHKEIT — POETISCHER
ANACHRONISMUS(?)

Wesentlich geringere Beziehungen zur aktuellen sozialen und politischen
Wirklichkeit des angehenden neuen Jahrhunderts wiesen die heute zumeist
ebenfalls mit Recht vergessenen Lieder auf, die um die Jahrhundertwende noch
immer den trivialpoetischen Standards der Aufklärung verpflichtet waren.
Dabei denke ich nicht nur an die im deutschsprachigen literaturhistorischen
Entwicklungsprozess um einige Jahrzehnte verspäteten Österreicher und
Schweizer, ja nicht einmal ausschließlich an die um 1800 noch dichtenden
Vertreter der alten noch vor Goethe geborenen Generation mit Gleim, Klop¬
stock und Herder. Von den letzteren war Gleim nicht nur der älteste, sondern
ganz gewiss auch der produktivste. „Mein Vögelchen und ich wir singen um
die Wette“, schrieb der ewig junge 83jährige Dichter.!’ Und tatsächlich gab er

4 Das Wort ‚Triumph‘ klang in einem franzosenfeindlichen preußischen Lied besonders schlecht.
So verwendete man dafür in der Schlussstrophe „Victoria“.
15 Johann Wilhelm Ludwig Gleim: „Mein Vögelchen“. In: NIM, Marz 1802, H. 3, S. 161 f.

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