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GOETHES AN SCHWAGER KRONOS IN EINER ADAPTATION VON 1800 Im Gegensatz zu den zwei Rollengedichten wurde hier die Lehre unmittelbar in Worte gefasst. Aber auch in diesem Gedicht begegnet man Passagen, deren lehrhafter Charakter mit der Attitiide der beiden anderen korrespondiert, wenn z. B. im Sinne der rationalen Logik auch dieses Mal abzulehnende Verhaltensweisen vorgeführt werden, wie dies u. a. in der vorletzten Strophe deutlich wird: Gefühle gleichen jenem Kraut, Das die Berührung tödtet: Ein Herz aus zartem Stoff erbaut Ist schüchtern und verödet. Der empfindsamkeitskritische Inhalt dieser Verse war natürlich in einer Zeit, in der Sentimentalismus alle Schichten und Tendenzen des literarischen Lebens zu überschwemmen drohte,°* höchst aktuell. Die dichterischen Intentionen, die Aussageweise, die Geste mit dem erhobenen Zeigefinger wurden aber auch hier allen aufgeklärten Traditionen gerecht, für die im Jahre 1801 noch immer breite Leserschichten offen waren. Diese Traditionen verbinden die drei Gedichte Einsiedels miteinander auf das engste und trennen form- und gehaltstypologisch letztere ganz und gar von Goethes Sturm-und-Drang-Hymne. Dass eines der drei Gedichte Wörter, Motive bzw. strukturelle Elemente aus An Schwager Kronos entlehnte, beweist lediglich, dass Goethes Sturm-und-Drang-Werk auch inmitten der Hochklassik nicht zu umgehen war, dass es — besonders in Weimarer Kreisen — gelesen wurde, und dass man sich davon — wie z.B. in diesem Fall — gelegentlich auch beeindrucken ließ. Das war aber in unserem Falle auch alles. Die Textvergleiche beweisen, dass die Beziehungen zwischen Vorlage und Adaptation nicht im Geringsten von substanzieller Art waren. Einsiedels Gedicht ist auch keine Parodie, kein Neben- oder „Gegen“-Gesang und auch keine formveränderte travestierte Verulkung des Sturm-und-Drang-Gedichtes. Letzteres bot lediglich das — unter poetisch-künstlerischen Aspekten vollkommen belanglose — Thema für das Gedicht des Weimarer „Freundes“. Der Dichter Goethe, zu dessen Dichtkunst diese Adaptation keinerlei Beziehungen aufweist, dem andererseits um 1800 nichts ferner lag als seine Sturm-und-Drang-Vergangenheit, brauchte sich auf keine Weise getroffen zu fühlen. Man darf eher vermuten, dass er während der Lektüre der Einsiedel’schen Adaptation mit Genugtuung zur Kenntnis nahm, dass in Freundeskreisen selbst sein Sturm-und-DrangWerk noch immer gelesen und geachtet wurde. 64 Siehe dazu Tarnöi, Parallelen, Kontakte und Kontraste, S. 38-48 u. in diesem Band Kap. „Romantisches und Sentimentales im Kontext eines merkwürdigen Schiller-Liedes aus den hochklassischen Jahren“ sowie „Schillers letzte Gedichte im Kontext zeitgenössischer deutscher Lyrik“.