LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE
Was kümmert mich die ganze Welt! Fern sei von meinem hohen Schloß
Ich habe Wein, ich habe Geld; Der Denker und der Dichter Troß!
Ich lebe ohne Sorgen, Den Geist, den ich mir wähle,
Vom Morgen bis zum Morgen. Schlürf ich in meine Kehle.
Auch dieses Gedicht ist (wenigstens thematisch) nicht unabhängig von vielen
anderen. Das Ihema des Dolcefarniente wurde in der deutschsprachigen Dich¬
tung von Hagedorn über Ewald von Kleist und den Göttinger Dichtern bis zur
Flugblattdichtung der Jahrhundertwende mit anakreontischer und Rokoko¬
Verspieltheit, mit stände- und moralkritischer Aussage, ja sogar mit dem
studentisch-burschikosen Lob auf das Glück durch Müßiggang, Genuss und
Gleichgültigkeit vielfach variiert.” Der Weimarer Autor verurteilte allerdings
in seinem Gedicht vom „frohen Junker“ — ähnlich wie in seiner Goethe-Ad¬
aptation — von der Warte der Aufklärung aus nicht nur eine selbstzerstöreri¬
sche Verhaltensweise (besonders deutlich in der letzten Strophe),°° sondern
auch eine Denkart, die außer allen möglichen persönlichen Interessen‘ auch
jede Beziehung zu der kultivierten Welt‘ aus dem eigenen Leben ausschloss.
Moderner als die anderen beiden ist das Gedicht Die Nahen und die Fer¬
nen.® Doch werden darin sämtliche in schlichter Form vorgetragenen medi¬
tierenden Ideen über das substanzielle Getrenntsein aller Wesen durch Ver¬
schiedenheit einerseits und über ihre notwendige und rationale Vereinigung
durch die Liebe andererseits im Grunde genommen von typischen Denkmo¬
dellen der deutschen Aufklärung gespeist, aus denen in den letzten Versen
folgende Verallgemeinerung aller vorangegangenen Erwägungen entspringt:
Das Band, das traulich uns umschließt,
Webt Gleichheit leiser Triebe;
Wer in des Andern Seele liest,
Der sucht und findet Liebe.
5 Dies veranschaulichte ich bereits mit einer Reihe von Beispielen in: Parallelen, Kontakte und
Kontraste, S. 61-65.
Siehe vor allem den zweiten Vers in der Schlussstrophe des Gedichtes: „Der Wasserschlucker
scheeler Zahn / Zernage meinen Lebensplan! / Den Trost gereifter Trauben, / Soll mir kein
Spotter rauben.“
Siehe vor allem die ersten Verse in der zweiten Strophe („Ich achte nicht der Großen Gunst /
Des Ruhmes dünkelhaften Dunst“) und in der dritten Strophe („Es werde Stern und Ordens¬
band, | Der leeren Titel eitler Tand“). (Hervorhebung L. T.)
So wie zu jedem „Denker“, „Dichter“ und überhaupt ganz allgemein zum „Geist“ in der oben
zitierten 4. Strophe.
E(insiedel, Friedrich Hildebrand): Die Nahen und die Fernen. In: Kleine Schriften, Bd. 1, S.
113-115.