GOETHES AN SCHWAGER KRONOS IN EINER ADAPTATION VON 1800
Die Textbeziehungen zwischen den beiden Gedichten konstituieren sich
eigentlich, wie eingangs angedeutet, im Grunde genommen aus thematischen
Zusammenhängen (in beiden geht es um die „Lebensfahrt“ des Menschen, im
Einsiedel-Gedicht bereits im Titel angedeutet), aus strukturellen Parallelitäten
(mit den aufeinander folgenden Komponenten von der schnellen Fahrt über die
Ängste vor dem Altwerden bis zum Lebensende mit dem freundlichen Empfang
im Jenseits) und aus manchen semantischen und syntaktischen Beziehungen,
darunter aus überraschend wenigen wörtlichen Übereinstimmungen. Letztere
sind eigentlich neben dem besonders hervorstechenden „Schwager Kronos“ (in
der Adaptation Strophe für Strophe als Anrede strapaziert) nur noch sechs,
hinsichtlich der künstlerischen Textgestaltung mehr oder weniger belanglose
Wörter,°° so wie „rasch“, „Leben“, „frisch“, „Strahl“, „Weg“ und „Wirt“. Das Er¬
messen von synonymisch-semantischen Beziehungen ergibt ein ähnlich dürf¬
tiges Inventar mit Parallelitäten wie „spude dich“ — „tummle dich“, „töne* —
„blase“ sowie mit Sätzen wie „die Sonne sinkt“ — „der ferne Strahl versinket“.
Von höherer Relevanz sind allerdings manche syntaktischen Korrelationen der
zwei Gedichte: Die Verbindung von „rasch“ und („ins“ bzw. „durchs“) „Leben“
am Ende der beiden ersten Strophen (im Goethe-Gedicht auch später einmal
variiert) sorgt jeweils für die im Weiteren poetisch maßgebende Übertragung
der Bilder der „Fahrt in der Postkutsche“ in die abstraktere inhaltliche Sphäre
der „Lebensfahrt“. Die zwei miteinander koordinierten Temporalsätze mit der
Konjunktion „eh“ machen später die Übereinstimmungen wichtiger thema¬
tisch-kompositorischer Partien besonders augenfällig. Außerdem korrespon¬
diert in den zwei Gedichten eine ganze Reihe von Aufforderungssätzen, die
jeweils die ersehnte schnelle Fortbewegung nachempfinden lassen.
Höchst divergierend sind dagegen die unter poetologischen Aspekten viel
wichtigeren lyrischen Grundpositionen der beiden Dichter (d. h. der eigent¬
liche Inhalt bzw. Gehalt der zwei Gedichte) und ihr poetischer Ausdruck (ihre
Formensprache).
TEXTVERGLEICH 2: DIE LEXIK
Es gibt in Einsiedels Gedicht-Adaptation bei allen oben angedeuteten seman¬
tisch-syntaktischen Parallelitaten kein Beispiel fiir die in den Sturm-und¬
Drang-Jahren so typische und unverwechselbare individuelle und auch in der
späteren Umarbeitung erhalten gebliebene Wortbildung, Wortwahl und poe¬
tische Syntax Goethes.”
36 Der Einfachheit, der Übersichtlichkeit, aber auch der Exaktheit halber werden beim Vergleich
des Wortschatzes der beiden Gedichte nur die unter poetischen Aspekten besonders relevan¬
ten Wortarten (Verben, Substantive und Adjektive) berücksichtigt.
” Diese Eigenheit der Sturm-und-Drang-Lyrik Goethes ist seit den frühesten Anfängen der
Goethe-Forschung bekannt. Siehe z. B. die um die Mitte des 19. Jahrhunderts gehaltenen
Vorlesungen von Viktor Hehn sowie seine etwa gleichzeitig entstandene Monographie: Über
Goethes Gedichte. 2. Aufl. Stuttgart / Berlin: Cottasche Buchhandlung, 1912, S. 352.