LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE
bereits seit mehr als einem Jahrzehnt vor der Herausgabe der Einsiedelschen
Adaptation weit und breit gelesen werden konnte.
Den Rahmen der drei Einsiedel-Gedichte, zu denen Die rasche Lebensweise
gehört, bilden die zwei Bände der Kleinen Schriften. Mit diesen begrüßte die
zeitgenössische deutsche Schriftsteller-Elite des Herzogtums Weimar - ein¬
schließlich einige Autoren von außerhalb — das neue Jahrhundert.”! Das be¬
wusste Zeiterlebnis bewog Herausgeber und Autoren der belletristischen Bei¬
träge, nunmehr im Sinne des einleitenden Goethe-Festspiels Vergangenes und
Gegenwärtiges, Tradiertes und Modernes miteinander zu versöhnen und somit
zeit- und tendenzunabhängig der höheren Kultur der Menschheit zu dienen.
Das Neue erhielte in Goethes Sinne durch das Alte den notwendigen Ernst,
und das Alte würde nach ihm durch das Neue verjüngt und lebendig. Hierzu
brauchten vom Neuen (Neoterpe) und Alten (Paläofron) lediglich die jeweiligen
extremen und stets Unheil stiftenden Begleiterscheinungen”” getrennt zu wer¬
den. Dieser Grundhaltung ist vermutlich das einmalig breite Spektrum der
rund 500 Seiten dieser eminenten Anthologie zu verdanken.
Die Bände vermitteln das Gefühl des friedlichsten Mit- und Nebeneinanders
von Aufklärung, Klassik und Romantik. Die Grenzen zwischen den verschie¬
densten Stilrichtungen und Anschauungen verlieren hier ihre sonst so schar¬
fen Konturen. Der Leser der Kleinen Schriften erhält den Eindruck, als sei den
Autoren nur die eigene poetische Leistung und ihre Wirkung, nicht aber das,
was sie voneinander trennt, wichtig gewesen. So liest man in einem Gedicht
von aufgeklärten Hoffnungen auf den Sieg von „Licht und Vernunft“ im 19.
Jahrhundert, die der „Blindheit und Nacht“ der vergangenen hundert Jahre
folgen sollen.*? In einem anderen Gedicht wurde die klassische („ewige“)
Schönheit an sich verherrlicht,?* und in einem dritten feierte man die roman¬
tische Wende eines frühromantischen Erzählers.”° In den zwei Bänden wurden
recht viele klassizistische Epigramme gedruckt,” gleichzeitig folgte man den
in den neunziger Jahren bereits klassisch gewordenen Traditionen der Idyllen¬
Von den Namen der Autoren (siehe Anm. Nr. 4.) diirfte zwar heute selbst einem Germanisten
kaum mehr als die Hälfte geläufig sein, doch vertreten diese viel mehr die zeitgenössische
Weimarer und nicht Weimarer deutsche Schriftsteller-Elite als die Verfasser der meisten
Sammelbände und Organe jener Zeit. Merkwürdig ist allerdings, dass Schiller (seit 1799
wohnhaft in Weimar) in den beiden Bänden mit keinem Beitrag vertreten ist.
Die allegorischen Begleiter von Neoterpe heißen „Gelbschnabel“ und „Naseweis“, die von
Paläofron „Haberecht“ und „Griesgram“.
Knebel, [Karl Ludwig]: Dem neuen Jahrhundert. In: Kleine Schriften, Bd. 2, Vorblatt.
Messerschmied: Die Gaben der Muse. Ebd., S. 161 f.
Schlegel, Friedrich: An Ludwig Tiek [!]. Ebd., S. 163 f.
6 Siehe u. a. die Epigramme von K. L. Knebel. Ebd., Bd. 2, S. 248-262.