er eigentlich indirekt auch tiber die eigene Sturm-und-Drang-Poesie aussprach,
als er, aus Italien zurückgekehrt, Schillers Räuber-Drama entschieden ableh¬
nend zur Kenntnis nahm,'” und wie schwer er sich tat, als er bei der Vorbe¬
reitung seiner ersten Werkausgabe vor 1790 manchen eigenen Gedichten aus
den frühen siebziger Jahren wieder begegnete. Den Sturm-und-Drang-Cha¬
rakter des ursprünglichen An Schwager Chronos-Gedichtes hat Goethe z. B.
für diese sowie die späteren Ausgaben (vor allem mit dem neuen, versöhnend¬
freundlichen Ausklang) in hohem Maße gemildert'® und die signifikanteste
Hymne der Geniebewegung, das Sturmlied wurde - aus welchen Gründen
auch immer — dieses Mal gar nicht veröffentlicht.'?
So lange Goethe das Faust-Drama, das die Entstehung der Kindermörderin
von Heinrich Leopold Wagner einst möglicherweise mehr oder weniger be¬
einflusst hatte, mit wenigen Abbrechungen stets als das „Hauptgeschäft“
seines Lebens betrachtete, markierten die Sturm-und-Drang-Hymnen lediglich
eine wichtige Episode in seinem literaturhistorischen Werdegang, von denen
er sich schließlich gerade um die Jahrhundertwende am weitesten entfernt zu
haben schien. Wichtige Passagen des in der Anthologie enthaltenen Goethe¬
Festspiels wie auch der gleichzeitig geschriebenen Gedichte enthalten wieder¬
holt die hochklassische Kritik an jedem (auch am eigenen früheren) „Stürmen
und Drängen“. Nichts stand dem Dichter, der z. B. die Verse „Vergebens werden
ungebundne Geister / Nach der Vollendung reiner Höhe streben“ schrieb,”
ferner als Gedanken und Gefühle einer ungestümen Lebensfahrt. So dürfte
man annehmen, dass Goethe sich von der Adaptation dieses Gedichtes durch
einen Freund, wenn überhaupt, doch bei Weitem nicht so getroffen fühlen
musste, wie unter Umständen im Falle von Entlehnungen aus seinem Faust¬
Drama. Außerdem dürfte es nicht belanglos sein, dass vom letzteren zur Zeit
der Entstehung und Publikation des Wagner-Dramas noch überhaupt nichts
gedruckt vorlag, wohingegen die 1789 im achten Band der Werkausgabe ver¬
öffentlichte zweite Fassung des An Schwager Kronos-Gedichtes von Goethe
7 Goethe, Johann Wolfgang: Erlebnisse und Begegnungen. Erste Begegnung mit Schiller. 1794.
In: Goethes Poetische Werke. Bd. 16. Berlin / Weimar: Aufbau-Verlag, 1964, S. 402. (= Berli¬
ner Ausgabe)
Vgl. auch die Anmerkungen in: Goethes Werke. Gedichte und Epen. Erster Band. 2. Aufl.
Textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz. Hamburg:
Christian Wegner Verlag, 1952, S. 439 f. (= Hamburger Ausgabe)
Angenommen, dass Goethe eventuell zur Zeit der Vorbereitung der ersten Werkausgabe über
keine Textvorlage des Sturmliedes verfügt hätte, würde an der Tatsache kaum etwas ändern,
dass dieses in allen sprachlichen und poetischen Details durch und durch Sturm-und-Drang¬
Gedicht mit Goethes in und nach Italien neu entstandenen poetischen Ansichten an der
Grenze zwischen Früh- und Hochklassik auf keine Weise zu vereinbaren war und meines
Erachtens diese Mal auch mit keinerlei „mildernden“ Eingriffen in den ursprünglichen Text
für eine Veröffentlichung zu „retten“ gewesen wäre. Weiteres über dieses Gedicht siehe in
diesem Band S. 302-304.
2° Verse 10 u. 11 im 1800 entstandenen Sonett „Natur und Kunst“.