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GOETHES AN SCHWAGER KRONOS
IN EINER ADAPTATION VON 1800!

In den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts nahm im deutschen Sprachraum
nicht nur die Zahl der belletristischen Neuerscheinungen verschiedenster li¬
terarischer Tendenzen in einem bis dahin unbekannten Tempo zu.’ , Wie
Buchhandel und Schriftsteller, so hatte um 1800 auch das Lesepublikum die
Schwelle zwischen Früher Neuzeit und Moderne überschritten“ — behauptet
Reinhard Wittmann.’ Unter den neuen Umständen gestalteten sich Literatur
und literarisches Leben durch das zunehmende Interesse bereits breiter Leser¬
schichten sowie durch die Rezeptionsoffenheit der Autoren für tradierte Wer¬
te der deutschen Literatur des vergangenen halben Jahrhunderts wesentlich
differenzierter als je zuvor. Beim Sichten der zeitgenössischen Drucke - von
den anspruchsvollen Anthologien und periodischen Schriften bis zu den flie¬
genden Blättern - fällt allerdings auf, in welchem Maße um 1800 die unlängst
noch so modern wirkenden Wertvorstellungen und poetischen Leistungen der
Geniebewegung in Vergessenheit geraten waren. Nichts widersprach dabei
mehr dem allgemeinen literarischen Geschmack der Jahrhundertwende, ge¬
schweige denn der deutschen Klassik, als die par excellence ,,Genie-Poesie“
Goethes: seine dem Sturm und Drang verpflichtete Gedankenlyrik, die im
Inhalt sowie nach der formalen Gestaltung gleicher Weise ungebundene Hym¬
nendichtung aus der Zeit vor seiner Übersiedlung nach Weimar. Umso über¬
raschender ist folgendes Gedicht, das inmitten der deutschen Hochklassik, im
Jahre 1801, in einer zweibändigen repräsentativen Anthologie* in Weimar,

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Erschienen in „swer sinen vriunt behaltet, daz ist lobelich“. Festschrift für Andräs Vizkelety
zum 70. Geburtstag. Piliscsaba / Budapest: Katholische Péter-Pazmany-Universitat, 2001, S.
367-382.

Vgl. dazu Kiesel, Helmuth; Münch, Paul: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Vor¬
aussetzungen und Entstehung des literarischen Markts in Deutschland. München: C. H. Beck’¬
sche Verlagsbuchhandlung, 1977, 5. 196 f. Siehe auch die Aufstellungen in Goldfriedrich, Johann:
Geschichte des deutschen Buchhandels. Bd. 3. Vom Beginn der klassischen Literaturperiode
bis zum Beginn der Fremdherrschaft (1740-1804). Leipzig: Verlag des Börsenvereins der deut¬
schen Buchhändler, 1909, S. 305. u. 656.

Wittmann, Reinhard: Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick. München: Ver¬
lag C. H. Beck, 1991, S. 199.

Kleine Schriften, größtentheils von Weimarischen Gelehrten aus dem ersten Jahre des neun¬
zehnten Jahrhunderts. Erstes Bändchen, verfasst von Fr. Brun geb. Münter, von Einsiedel, von
Göthe, von Knebel, Fr. Majer, Jean Paul, Friedr. Richter, Siegm. von Seckendorf, F. K. L. von
Seckendorf, und von Sonnenfels. Weimar: Gebrüder Gädicke, 1801, 250 S.; Zweites Bändchen,
verfasst von Gerning, Gräter, von Hammer, Herder, von Knebel, Lütkemüller. Fr. Majer, Mes¬
serschmid, Rückert, Friedr. Schlegel, Siegmund von Seckendorf, F. K. L. von Seckendorf, und
von Sonnenfels. Weimar: Gebrüder Gädicke, 1801, 280 S.

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