LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE
ebenda allein das verbotene Ein freyes"Leben führen wir ohne Verfassernamen
genannt, jedoch mit dem eindeutigen Hinweis, dass ,,einige [...] leider von den
deutschen Musensitzen bis zur Mad. Solbrigin” hinabgestiegen“ seien.
Die Frage ist hierzu eigentlich, wie die Flugblattvariante des Schiller’schen
Räuberliedes überhaupt mit der Revolution in Zusammenhang gebracht wer¬
den konnte. Gewiss wirkte dabei der neue Gedichtanfang mit dem nun hervor¬
stechenden Begriff freies Leben um 1800 besonders irritierend. Damit hob ja
das neue Gedicht an, und es wurde sogar im folgenden Vers mit den Worten
„ein Leben voller Wonne“ unumstritten zur größtmöglichen menschlichen
Freude erhoben. Der Flugblattversion fehlte auch im Weiteren tatsächlich jedes
distanzierende Motiv seitens des Autors, was dabei umso schlimmer ausgelegt
werden konnte, als ja freies Leben und vermeintliche revolutionäre Anarchie
im herrschenden zeitgenössischen Bewusstsein einander nicht unbedingt aus¬
geschlossen haben. So ist eventuell auch anzunehmen, dass berufsmäßige
Sittenrichter wie Zensoren und Kritiker, ja sogar mancher empfindsamere
Leser selbst in dem räuberromantisch stilisierten Flugblattlied die offensicht¬
lich anarchistischen Motive des originalen Schiller-Gedichtes noch entdeckten
und folglich dieses Anarchistische mit dem Revolutionären gleichsetzten.
Trotzdem tut man sich schwer, wenn man verstehen will, warum der un¬
bekannte Verfasser die Kategorie Revolutionsseuche gerade mit diesem „poli¬
tisch“ zumindest nicht ganz „reinen Fall“ veranschaulichte und nicht mit so
einem tatsächlich revolutionären und franzosenfreundlichen Lied wie „Muth,
Muth! Franken [erbebt nicht vor Aristokraten Wuth]“, das als 22. Lied sogar
ziemlich vorne auf der Liste stand.?*
Der Rezensent des Weimarer Modejournals war nicht der einzige, der den
„frommen Wunsch“ äußerte,
daß wir bald nicht bloß eine lärmende, schwärmende und jauchzende, sondern
auch eine klingende und singende Nation werden mögen [...] Möge es doch also
bald Mode werden, durch feinere [...] Lieder den Becher der Freude auch in solche
Gesellschaften zu bringen, wo die unteren Stande sich mit den mittleren und obe¬
2 Auf der Verbotsliste wie auch auf dem Titelblatt sowie im Flugblatt des in Leipzig konfiszier¬
ten Druckes wurde das Wort frei konsequent mit „i“ geschrieben, in allen übrigen Varianten
der fliegenden Blätter mit „y“, ja sogar in dem Weimarer Journal, in dem man über das ver¬
botene Lied berichtete.
” Besitzerin des Leipziger Verlags, in dem die Konfiskation der Flugblattdrucke 1802 stattfand.
Ihr Verlag wurde vom Verfasser im gleichen Artikel weiter oben u. a. eine „moralische Gift¬
bude“ bzw. ein „Raupennest“ genannt.
2 Tarndi, Verbotene Lieder, Nr. 22a, S. 136 f.
24 Journal des Luxus und der Moden, S. 427.