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SCHILLERS RAUBERLIED UND SEINE VARIANTEN AUF FLIEGENDEN BLATTERN! Um 1800 war in Deutschland eine überaus große Zahl von Gedichten der literaturhistorisch repräsentativen deutschsprachigen Lyrik auf fliegenden Blättern zugänglich. Diese Flugblattlieddrucke waren meistens achtseitige Liederheftchen, fast ausnahmslos ohne jede Angabe von Druckerei und Ort, Erscheinungsjahr und Herausgeber — und schon gar nicht mit dem Vermerk eines Verfassers. Dafür las man auf dem Titelblatt jeweils die Versanfänge der im Heftchen enthaltenen „zwey“, „drei“ ... oder auch „elf“ „sehr schönen“, „neuen“ und/oder „anmuthigen Lieder und Arien“ und darunter die ewig junge Zeitbestimmung „Gedruckt in diesem Jahr“, seltener andere ebenfalls nichtssagende Data wie z. B. „Gedruckt in der Preß“, „Gedruckt mit schwarzen Buchstaben“ u. a. m. Hin und wieder gab es sogar Hinweise auf den Inhalt - so z.B. „welche ohne Aergerniß können gelesen werden“ bzw. „zum unschuldigen Vergnügen“ — mit dem eindeutigen Ziel, dem politisch-weltanschaulich oder moralisch für heikel Geltenden den Schein der Harmlosigkeit zu verleihen und ihm damit den Weg zum Leser freizumachen. Die Drucke waren außerdem von primitivster Ausführung: schlechtes Papier, Strophen in ungebundener Prosaform gesetzt, d.h. ohne Versgliederung, der Text voller Druckfehler — all das zugunsten möglichst niedriger Herstellungskosten. Der Erzielung des größten Reingewinns diente andererseits die Auswahl der Lieder, d.h. das Gedichtangebot selbst, das in jeder Hinsicht auf die zeitgenössische Nachfrage zugeschnitten war. Meistens wurde dabei in die vom Dichter beabsichtigte Gestaltung des Gedichtes rücksichtslos eingegriffen. Man hat die Gedichte jeweils mehr oder weniger umgearbeitet, um den Zugang zum Leser so weit und breit wie nur irgend möglich zu machen. Schließlich wurden gängige Flugblattlieder, die Schlager ihrer Zeit, immer wieder neu variiert. Dabei wurden natürlich Autorenrechten keinerelei Beachtung geschenkt. Somit spiegeln — und das ist unter unserem Gesichtspunkt besonders wichtig — die Flugblattlieder mehr als alle anderen gedruckten Gedichte den tatsächlichen Geschmack des Publikums wider. Das Ensemble dieser Lieder war weniger als sonst von individuellen oder tendenziösen weltanschaulichästhetischen und kulturpolitischen Aspekten überlagert. Mit anderen Worten: Das ästhetische Empfinden der Leser, verbunden mit ihren Unterhaltungs! Der ursprüngliche Text dieses Kapitels war mein Konferenz-Vortrag im November 1984 an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena anlässlich des 225. Geburtstags des Dichters. Er erschien in Friedrich Schiller. Angebot und Diskurs: Zugänge, Dichtung, Zeitgenossenschaft. Hg. v. Brandt, Helmut. Berlin / Weimar: Aufbau-Verlag, 1987, S. 410-430. « 89 s