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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

des Individuums zu seiner Umwelt unwiderruflich bestimmten. ,,Auf der Woge
der Menschheit“ zu „steuern“, die ,,Weltrolle“ zu ,,spielen“, ,auf dem Theatro
mundi was zu tragiren“, wie Goethe sich 1775 und 1776 in mehreren Briefen
geäufert hatte, dazu gehörten auch die klare Einschätzung der beschränkten
subjektiven Möglichkeiten, die zunehmende Einsicht in die jeweiligen objek¬
tiven Verhältnisse sowie kluges Maßhalten in Entscheidungen und Handlun¬
gen. Diese äußerst wichtigen Momente bestimmten im Herbst 1776 nicht mehr
nur die Formen des Umgangs mit der Außenwelt, sondern bereits auch den
Inhalt der ganzen Denk- und Handlungsweise des Dichters. Selbst die Anerken¬
nung der ausschlaggebenden und vorrangigen Rolle des Schicksals im Leben
des Einzelnen, d.h. die Anerkennung der objektiven Wirklichkeit als Priorität
folgte aus dieser programmatischen Haltung als eines der wichtigsten Resul¬
tate der ersten zehn Monate in Weimar. Die Seefahrt brachte dies zum Aus¬
druck, als Goethe die wiederholt variierten Worte „Mit dem Schiffe spielen
Wind und Wellen“ niederschrieb. Obwohl er im antithetischen Vers „Wind
und Wellen nicht mit seinem Herzen“ auch auf der Durchsetzung der eigenen
Persönlichkeit bestand und die nachfolgenden Worte „Herrschend blickt er
auf die grimme Tiefe“ sogar noch mit manchen Bildern der Sturm-und-Drang¬
Lyrik korrespondierten, °' war er letzten Endes der Überzeugung, nur durch
die Wahrnehmung der Wirklichkeit seine individuellen Zielsetzungen reali¬
sieren zu können: Die Möglichkeit des Scheiterns, bedingt durch die objektiven,
unabhängig von ihm bestehenden Schwierigkeiten, hielt er nämlich genauso
für möglich wie den Erfolg seiner persönlichen Anstrengungen:

Mit dem Schiffe spielen Wind und Wellen;
Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen:
Herrschend blickt er auf die grimme Tiefe
Und vertrauet, scheiternd oder landend,

Seinen Göttern.

Charakteristisch für die Dichtung von 1776 war nicht nur die Aussage der
Seefahrt, sondern auch die Entfaltung ihrer poetischen Stimmung, die vor
allem durch die organisch miteinander verbundenen Antithesen und ganz
besonders durch das offen gelassene Entweder-Oder am Gedichtende geprägt
wurde. Die daraus folgende Unschlüssigkeit betraf jedoch nicht mehr die eige¬
ne Verhaltens- und Handlungsweise, sondern allein die Möglichkeit der Rea¬
lisierung ihrer Ziele. Mit welcher Entschiedenheit und Konsequenz Goethe im

’° Siehe in Goethes Briefen an J. K. Lavater, Weimar, den 6. März 1776 (Berliner Ausgabe, Bd. 1,
S. 870), an J. H. Merck, den 5. u. 22. Januar 1776 (= Weimarer Ausgabe, Abt. IV, Bd. 3, Nr. 380
u. 389, S. 15 u. 21 sowie an J. Fahlmer, den 13. 2. 1776 (ebd., Nr. 402, S. 28.).

5! So z. B. mit dem Bild vom „herrlichen“ „Blick [...] ins Leben“ vom Gipfel des Berges im „Ge¬
dicht An Schwager Kronos“.

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