Du HAST FUR UNS DAS RECHTE MASS GETROFFEN
Du hast uns lieb, du gabst uns das Gefühl:
Dass ohne dich wir nur vergebens sinnen,
Durch Ungeduld und glaubenleer Gewühl
Voreilig dir niemals was abgewinnen.”
Das rechte Maß menschlichen Handelns sei daher jeweils vom Schicksal be¬
stimmt — wenigstens so lautet das poetische Fazit dieser Verse bzw. der ersten
Erlebnisse in Weimar:
Du hast für uns das rechte Maß getroffen,
In reine Dumpfheit uns gehüllt,
Dass wir, von Lebenskraft erfüllt
In holder Gegenwart der lieben Zukunft hoffen.
So konsequent wurde aber in dieser angehenden Übergangsphase der Goethe’¬
schen Dichtung der Begriff Schicksal nicht immer behandelt. Widerspruchsvoll
ist z. B. in dieser Hinsicht das heute vielleicht bekannteste Liebesgedicht aus die¬
ser Zeit, Warum gabst du uns die tiefen Blicke |...].”” Eingangs sprach darin der
Dichter das Schicksal den neuen Normen gemäß wie ein Phänomen an, das selbst
die individuellen Einsichten und Gefühle determiniert. Auch im zweiten Teil des
Gedichtes, in dem der Dichter die Geliebte mit den Worten „Sag, was will das
Schicksal uns bereiten?“ anredete, enthielt die Frage nach der Zukunft die Aner¬
kennung der Schicksalsabhängigkeit des Menschen. Dem neuen Typ der poeti¬
schen Motivierung der lyrischen Aussage widerstrebte nicht im mindesten, dass
sich an diese Worte die Vorstellung der nunmehr selbstverständlich gewordenen
„Mäßigung“ anschloss, wenn auch die assoziativen Beziehungen zwischen den
beiden Begriffen (Schicksal und Mäßigung) hier, ausschließlich durch das Ge¬
fühlsleben in der Liebe motiviert, wesentlich lockerer waren als im oben bespro¬
chenen Schicksalsgedicht.
Schließlich hatte aber Goethe allen seinen vorangegangenen Urteilen wi¬
dersprochen. Mit den letzten Worten, nach denen das Individuum vom Schick¬
sal nur gequält, nicht aber verändert werden könne, hat er wieder einmal den
prometheischen Geist der Frankfurter Jahre heraufbeschworen:
Glücklich, dass das Schicksal, das uns quälet,
Uns doch nicht verändern mag!
Unter literaturhistorischen Aspekten sind Inkonsequenz und Unschlüssigkeit
natürlich nicht weniger bedeutende Motive des Umwertungsprozesses der
* Lyrische Worte wie diese sind erste Vorboten von Versen wie „Vergebens werden ungebundne
Geister / Nach der Vollendung reiner Höhe streben“ ein Vierteljahrhundert später.
*2 Goethe, An Charlotte von Stein. In: Berliner Ausgabe, Bd. 2, S. 21£.