Du HAST FUR UNS DAS RECHTE MASS GETROFFEN
Gedicht, in dem die Gefühle des Dichters zwischen dem bis zum „Rasendwer¬
den“ extrem polarisierten Menschenhass und der Menschenliebe schwanken:
Der Teufel hol das Menschengeschlecht!
Man möchte rasend werden!
Da nehm ich mir so eifrig vor:
Will niemand weiter sehen,
Will all das Volk Gott und sich selbst
Und dem Teufel überlassen!
Und kaum seh ich ein Menschengesicht,
So hab ich’s wieder lieb.??
Auch im Menschengefiihl* ist die Normveränderung der neu beginnenden
Periode einleuchtend. Wie im Königlich Gebet setzte nämlich Goethe die
Akzente nicht mehr auf maßloses Handeln, sondern auf die Persönlichkeits¬
entfaltung durch „festen Sinn und guten Mut“. Beiihrer Realisierung brauch¬
te der Mensch nicht mehr „göttergleich“ zu werden. Wichtige Sturm-und¬
Drang-Positionen wurden so zum Teil fragwürdig gemacht, zum Teil auch
abgelehnt. Dies bestätigt ebenfalls die bereits mehrmals erwähnte Erinnerung.
Darin hatte nämlich Goethe dem fortwährenden „Weiterschweifen“ — wie es
dort hieß — die Erkenntnis des für den Menschen ständig „naheliegenden
Guten‘, d.h. in diesem Kontext das sittlich vertretbare zweckmäßige Handeln
sowie im engen Zusammenhang damit das zielstrebige und praktisch „ergreif¬
bare Glück“ entgegengesetzt, wodurch er alles Maßlose für sinnlos erklärte.
Damit kann dieses kleine Gedicht bereits als ein wichtiger Vorläufer mancher
reifen Weltanschauungsgedichte der präklassischen Zeit zwischen 1780 und
1783 angesehen werden.
Im engsten gehaltlichen Zusammenhang mit dem Motiv der nunmehr für
notwendig gehaltenen Einschränkung des früher ins Maßlose gesteigerten
subjektiv-individuellen Handeln-Wollens steht die in der weimarischen Dich¬
tung Goethes von Anfang an artikulierte Sehnsucht nach Ausgleich und Auf¬
hebung aller Spannungen und Widersprüche zwischen Freiheit und Notwen¬
digkeit in ein harmonisches Natur- bzw. Friedenserlebnis. Manche Beispiele
bot dafür bereits die Dichtung vor Weimar. Das eklatanteste unter ihnen war
die dritte Strophe des Schweizer Gedichtes Ich saug an meiner Nabelschnur.
Seit der Ankunft in Weimar wurde der ersehnte Friede innerhalb der durch
Ausgleich bedingten Ruhe zu einem der neuen Grundmotive Goethe’scher
Lyrik. Die zweite Hälfte des ersten Wandrers Nachtliedes bezeugt das äußerst
prägnant:
33 Ebd., S. 474.
34 Ebd., S. 333.