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Drang-Lyrik bis zu seinen spatklassischen Gedichten konsequent vertrat.
Danach seien ausschließlich Erlebtes, ununterbrochen Fortschreitendes und
Förderndes die konstitutiven Träger kontinuierlicher Innovationen einer le¬
bendig wirkenden Poesie: „Man halte sich ans fortschreitende Leben und
prüfe sich bei Gelegenheiten; denn da beweist’s sich’s im Augenblick, ob wir
lebendig sind, und bei späterer Betrachtung, ob wir lebendig waren.“'®

Außerdem verlangte Goethe von den Poeten im gleichen Aufsatz über die
„Norm“ des Dichters - in der Bedeutung von einem selbst erarbeiteten Stand¬
punkt — Rechenschaft, wie dieser schon in den ästhetisch-poetischen An¬
schauungen der Stürmer und Dränger, u.a. in den theoretischen Schriften von
J. M. R. Lenz, als eine der wichtigsten Forderungen an die jeweiligen schöpfe¬
rischen Genies gestellt wurde."

Durch das Wirksamwerden dieser Dialektik des Erlebten und Fördernden
in der Lyrik von Goethe wurde ein zweifaches Verhältnis des Dichters zur
realen Weltin und durch sein lyrisches Produkt und damit die selbstverstand¬
liche Notwendigkeit der standig umgewerteten bzw. umstrukturierten , Norm"
geschaffen: Indem nämlich durch den schöpferischen Prozess das Erlebte
poetisch erfasst wurde, entstanden auch die Grundlagen für ein jeweils mehr
oder weniger neues, korrigiertes Verhältnis zur Wirklichkeit. Besonders be¬
achtenswert ist dies bei der Untersuchung der Gedichte nach seiner Ankunft
in Weimar. Ausschließlich sie sind nämlich - neben Briefen und sonstigen
biographischen Dokumenten - die vollendeten poetisch-ästhetischen Zeug¬
nisse, welche dem sich jeweils direkt und momentan durchsetzenden lyrischen
Gestaltungsprozess des „Erlebten“ und „Fördernden“ zufolge bereits außer¬
ordentlich überzeugend die ersten weltanschaulichen Konsequenzen am An¬
fang des ersten Weimarer Jahrzehnts belegen. Die neuen weltanschaulichen
Normen, die auf Grund der vom Spätherbst 1775 an in jeder Beziehung prin¬
zipiell von neuen Seiten kennengelernten Wirklichkeit entstanden sind und
durch die kontinuierlich wirkenden und verarbeiteten praktischen Erfahrun¬
gen einer ständigen Umwertung ausgesetzt waren, haben auch die fortlaufen¬
den Form- und Gehaltsveränderungen der poetischen Produkte mitbestimmt,
wobei diese Veränderungen gleichzeitig die notwendige und konsequente
Weiterentwicklung der gesamten späteren literarischen Produktion Goethes,
so auch die der erst später vollendeten dramatischen und epischen Werke vor¬
bereiteten.

Aus diesen Gründen vor allem hatte die Lyrik der ersten Zeit in Weimar
eine eminente literaturhistorische Bedeutung, wenn auch die erste notwendi¬
ge Umstrukturierung der „Normen“ in den etwa anderthalb Jahren nach der

18 Ebd.

„Er nimmt Standpunkt - und dann muß er so verbinden.“ Lenz: Anmerkungen übers Theater.
In: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Werke und Briefe in drei Banden. Bd. 2. Hg. v. Sigrid Damm.
Leipzig: Insel-Verlag, 1987, S. 648.