vita contemplativa — sowie nunmehr alle Interessen dafiir — durch eine mit
größter Hingabe erlebte vita activa in der ersten Zeit in Weimar notwendiger¬
weise beeintrachtigt wurde. Viel wesentlicher war, dass die, wie der Dichter
sich ausdrückte, „auf ihn losdringende wirkliche Welt“ ihm in Bezug auf den
organischen Zusammenhang zwischen „Antizipation“ und früher geplanten
und fortzusetzenden Werken im höchsten Maße „unbequem und störend“ war.
So mussten die Pläne, Skizzen und erste Versuche von Werken größeren Um¬
fangs, die weltanschaulich-gehaltlich eines tiefgreifenden Erfassens der er¬
lebten Umwelt bedurften, unter den grundsätzlich neuen Voraussetzungen des
eigenen Lebens in der ursprünglichen Konzeption und Form fragwürdig ge¬
worden sein. Ihre der veränderten Situation und den daraus erwachsenen
nagelneuen Aspekten entsprechende und gleichzeitig künstlerisch befriedi¬
gende Umstrukturierung war vorerst noch ebenfalls undenkbar; denn die
wirkliche Welt „will“ - so lautet die Fortsetzung der Goetheerklärung - „ihm
[dem Künstler, L. T.] geben, was er schon hat, aber anders, das er sich zum
zweiten Male zueignen muß“.' Es ist daher weder dem Zufall noch dem Zeit¬
mangel des Staatsmannes anzulasten, dass die erfolgreiche Umarbeitung erst
in Italien bzw. danach durchgeführt wurde: Form und Gehalt der früheren
und neu aufkeimenden Stoffe und Pläne bedurften der auf die Entwicklung
des Künstlers kathartisch wirkenden kritischen Konfrontierung mit der Wirk¬
lichkeit in Weimar während der staatsmännischen Tätigkeit. Andererseits
entstand erst in Italien die notwendige Distanz zu dem zu verarbeitenden
überaus reichen Erlebnismaterial, was in Form und Inhalt zur Umgestaltung
der alten, vor und in Weimar entworfenen literarischen Vorhaben und Ver¬
suche, d.h. zur „zweitmaligen Zueignung“ in hohem Maße beigetragen haben
konnte. Nur so ist es verständlich, dass Goethe erst in Italien im vollen Be¬
wusstsein seiner dichterischen Berufung die Worte niederschrieb: „[...] ich
habe mich [...] wiedergefunden; aber als was? — Als Künstler“.
Bezeichnenderweise litt Goethes Lyrik in ihrer kontinuierlichen Weiter¬
entwicklung nicht in diesem Maße unter der fundamentalen Umstellung der
Lebensverhältnisse des Dichters.'? Die Lyrik als die empfindlichste aller lite¬
rarischen Gattungen ist nämlich in besonderer Weise geeignet, das Erlebte
soweit wie möglich unmittelbar auszudrücken. Im lyrischen Schaffensprozess
ist daher ein höheres Maß an Individuellem und Subjektivem nicht nur erlaubt,
sondern auch erforderlich, um die authentische poetische Vermittlung des