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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

Wie so oft veröffentlichte der Dichter in seinen unterhaltsamen Frauenzimmer
Gesprächspielen auch eine kürzere und „mildere“ Variante dieses Gedichtes
mit einem größeren Spielraum der Relativierung des jeweiligen Standpunktes:

Ein 0 oder Zero in den Zahlen’!

Ich bin bald viel bald nichts / hab groß und kleinen Halt /
Nachdem man mich verpflanzt / und hab der Welt-Gestalt.

Abschließend sei noch des letzten großen deutschen Barockdichters gedacht:
Johann Christian Günther begeisterte sich bereits für die neuen Lehren der
aufgeklärten Philosophen und Naturwissenschaftler während seiner Schul¬
und Studienzeit. „Die bewunderten Meister seiner Knabenzeit, Leibniz und
Wolff, gaben dem Gang seines Geistes Ziel, Ordnung und Maß“ - schrieb über
ihn Wilhelm Kramer.” In einer ganzen Reihe von Gedichten berief er sich
auch auf sie, so z. B. als er die folgenden Verse schrieb:

Ich lernte nach und nach den Werth des Maro schäzen
Und fraß fast von Begier, was Wolf und Leibniz sezen.
Bey welchen ich den Kern der frommen Weißheit fand.”

Die These von Leibniz über die beste aller möglichen Welten war ihm theore¬
tisch genauso geläufig wie die von der populärwissenschaftlichen Auslegung
der Philosophie von Leibniz durch Christian Wolff, wonach das irdische Glück
ausschließlich vom „Verstand“ und von der „Tugend“ jedes einzelnen Menschen
abhinge. Er erhielt von der deutschen Frühaufklärung bereits auch Informa¬
tionen, nach denen die „Wahrheit“ und die Erziehung („die Zucht“) die ein¬
zigen Voraussetzungen für dieses Glück wären.

Allerdings der Zusammenhang zwischen persönlichem Leben bzw. indi¬
viduellen Erlebnissen und echter Poesie eines großen Künstlers ist auch im
Falle Günthers nicht auszuklammern.’”*Auch in seiner Poesie spielten die
erlebten zwischenmenschlichen Beziehungen in der kleinen und großen Welt
die ausschlaggebende Rolle. Diese verhießen aber für ihn genauso wenige Zu¬

7 Harsdôrffer: Ein 0 oder Zero in den Zahlen. In: H., G. Ph. M: Frauenzimmer Gesprächspiele,
III. Teil. S. 473.

72 Krämer, Wilhelm: Das Leben des schlesischen Johann Christian Günther. 1695-1723. Mit
Quellen und Anmerkungen zum Leben und Schaffen des Dichters und seiner Zeitgenossen.
2. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta, 1980, S. 110.

73 Günther, Johann Christian: Bußgedanken. In: Günthers Werke. Bd. 2. Hg. v. Wilhelm Krämer.
Leipzig: Karl W. Hiersemann, 1934, S. 219.

”* Es dürfte auch kein Zufall sein, dass Goethe seine literaturtheoretische These vom so genannten
ersten und zweiten Leben des Dichters gerade beim Gedenken Günthers entwickelte. Siehe
Dichtung und Wahrheit. In: Goethe: Poetische Werke. Autobiographische Schriften. Bd. 1. Aus
meinem Leben. Berlin / Weimar: Aufbau-Verlag, 1971, S. 288. (= Berliner Ausgabe Bd. 13)

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