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KOSMISCHE METAPHERN IN DER DEUTSCHEN BAROCKLYRIK

thematischen Kontrapunkt” zu dem stets Verderben verheißenden Hang des
Menschen an der in Zeit und Raum gebundenen materiellen Wirklichkeit.
Denn gerade dieser sinnlich-instinktive und daher des Menschen unwürdige
Hang am Irdischen führe zum unüberwindbaren Bruch mit dem ewigen Leben
und verschließe sämtliche Wege zu Gott.

Man braucht hierzu die oben zitierten barocken Gedichte nur im Kontext
der in den Gedichtbänden nebenan stehenden zu lesen.” Aber selbst innerhalb
dieser Gedichte von Gryphius und Lohenstein wurden die Spannungen ty¬
pischer Barock-Antinomien zwischen „Leib“ und „Geist“ deutlich zum Aus¬
druck gebracht: Sie sind ja in dem Gryphius-Vers „Was nie der Leib bezwang,
hat doch der Geist besessen“ genau so nachzuempfinden wie innerhalb des
Lohenstein-Verses ,,[...] der Geist sich dort so hoch vom Körper reisset“. Vom
Irdischen gänzlich losgebunden hebt sich der Geist in die Sphären zeit- und
raumloser ewiger Werte, auch wenn Gryphius sein Epigramm „Über die Him¬
melskugel“ mit dem rhetorischen Fragesatz schließt, „Soll dies nicht himmlisch
seyn, was selber Himmel macht?”

Dagegen schlug Barthold Hinrich Brockes fortwährend Brücken zwischen
den Menschen und dem von Gott geschaffenen Diesseits in seinen im Ver¬
laufe von einem viertel Jahrhundert veröffentlichten neun Gedichtbänden mit
dem ausdrucksvollen Titel Irdisches Vergnügen |!] in Gott.

Dass man beim Vergleich der zitierten Barockgedichte und der frühauf¬
geklärten Poesie dieses Mal gleicher Weise verhältnismäßig nur wenigen Me¬
taphern begegnet, ist lediglich dem zu verdanken, dass sich Lobverse in Preis¬
liedern vor allem möglichst ohne jede Umschweife jeweils auf das sachliche
Erfassen lobenswerter Fakten konzentrieren. In dieser Beziehung macht auch
die Barocklyrik keine Ausnahme. Andererseits sind in Brockes’ rationaler
Poesie nahezu sämtliche mit ausführlicher Akribie geschilderten Bilder vom
„Punkt“ über das „Wassertröpfgen“, „die Kirschblüte“ und den „Schmetterling“
bis zu den Details des menschlichen „Skeletts“”® bloß darzustellende Objekte,
die ohne jeden Gleichnis-Charakter ausschließlich der wissenschaftlich fun¬
dierten Argumentation für die göttliche Ordnung in der Natur dienen.

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Diesen musiktheoretischen Terminus hat der Ungar Milan Fiist in seinen asthetischen Schrif¬
ten und Budapester Vorlesungen in den fiinfziger und sechziger Jahren mit besonderer Vor¬
liebe auf Harmonien herbeiführende poetische Kontraste und Gegensätze übertragen. Siehe
z. B. in Füst, Milán: Látomás és indulat a müvészetben [Vision und Emotion in der Kunst].
Budapest: Akadémiai Kiadé [Akademischer Verlag], 1963, S. 276 f. Die Anwendung dieses
Terminus diirfte dieses Mal auch wegen der engen Beziehungen zwischen der kiinstlerischen
Ausdrucksweise der Musik und der Poesie im deutschen Barock begriindet sein.

Siehe z. B. auf der selben Seite der oben angeführten Epigramme von Gryphius das Gedicht
Nr. 29. mit dem Titel „Ad Levinum“ oder wenige Seiten nach dem Lohenstein-Preislied man¬
che Verse aus seiner „Umbschrift eines Sarches“. Ebd., S. 442 f.

Hervorhebung L. T.

Siehe hierzu das Gedicht „Betrachtungen aus der Anatomie“ v. B. H. Brockes.

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