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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

mauert wurden, setzten neue Maßstäbe für die Sicht auf die Welt. Damit
wurden aber letzten Endes auch sämtliche tradierten Denkmodelle fragwürdig
gemacht.

Diese neuen Kenntnisse und die verschiedenen Vorstellungen über die Be¬
schaffenheit der bislang unbekannte Weiten umspannenden Welt motivierten
logischerweise schon zur Zeit ihrer Entstehung und ihrer allmählichen Be¬
stätigung, bereits im barocken Jahrhundert, die damals allgemein vertretenen
Ansichten über Leben und Tod, Diesseits und Jenseits, Individuum und Ge¬
sellschaft sowie über Mensch, Natur und Gott, ja sogar über die Art und
Weise von Bewegungen und Veränderungen in Raum und Zeit — mit einem
Wort die fundamentalen Komponenten der Weltanschauung des Menschen
jener Jahrzehnte. Merkwürdig ist allerdings der plötzliche Funktionswandel
der kosmologischen Entdeckungen in der Denkweise des Zeitalters der deut¬
schen Aufklärung. Die neu entdeckten kosmischen Modelle untermauerten
nämlich in der Poesie des 17. Jahrhunderts in Deutschland vor allem die sei¬
nerzeit erlebten kritischen Spannungen, die im Grunde genommen lauter
Brüche und Disharmonien zwischen der materiellen Wirklichkeit und den
ethischen und geistigen Wertvorstellungen nachempfinden ließen. Dagegen
habe im aufgeklärten Jahrhundert - wie darüber Hans Richter in einer Studie
berichtete — geradezu „das erweiterte und differenzierte Bild der Welt“ im
Prinzip „die Verbundenheit von Mensch und Natur, von Natur und Gott“ ge¬
festigt.” Die gehaltstypologischen Divergenzen in der Rezeption der kosmo¬
logischen Kenntnisse wurzelten nämlich vor allem in den unterschiedlichen
historischen bzw. geistesgeschichtlichen Erfahrungen beider Epochen.

Bei allen Unterschieden hatte aber die typische „barocke Aufnahme“ der
neuen Vorstellungen vom Universum meiner Überzeugung nach keineswegs
mit mangelndem Interesse an den neuen geistigen Errungenschaften im 17.
Jahrhundert, bzw. mit dem fehlenden Integrationswillen der neuen Kennt¬
nisse in die Denkstrukturen dessen Vertreter zu tun.’ Die organische Ein¬
beziehung der verschiedenen „Bilder“ heliozentrischer Ansichten in die Lyrik
des deutschen Barock führte gerade deswegen zu grundsätzlich anderen Kon¬
sequenzen im jeweiligen Gehalt der meisten Gedichte als um und nach 1720
in der frühaufgeklärten Lyrik des Barthold Hinrich Brockes. Das heißt aber
nicht, dass die von der Aufklärung abweichenden weltanschaulich-ideologischen
Konsequenzen in den Barockgedichten mit kosmischer Thematik und/oder
Metaphorik den kopernikanischen und nachkopernikanischen kosmologischen
Ansichten faktisch unbedingt widersprochen hätten. So bestätigen sie jene
Behauptung von Hans Richter gewiss nicht in ausreichendem Maße, wonach
„die deutsche Lyrik erst im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts mit Brockes [...]

? Richter, Karl: Die kopernikanische Wende in der Lyrik von Brockes bis Klopstock. In: Jahrbuch
der deutschen Schillergesellschaft. 12. Jg. 1968. Stuttgart: Alfred Körner Verlag, S. 168.
3 Ebd., S. 137.

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