XII. DEUTSCHSPRACHIGE UNGARNBILDER UM 1800
War es denn wohl möglich, während alles in Europa sich verändert hatte, daß
nur in Ungarn es ganz so bleiben konnte, wie es vor einem halben Jahrtausend
gewesen war? Matthias Corvin und Stephan der Heilige hatten sehr vieles zu ihrer
Zeit nicht ohne Willkür verändert, Altes aufgehoben und Neues eingeführt, und
werden gleichwohl von der Nation selbst als große Könige verehrt. Kaiser Joseph
nach seiner Geisteskraft durfte sich wohl zu einem ähnlichen Werk berufen
fühlen; aber unglücklicherweise wurden durch die Art, wie man dabei verfuhr,
die Gemüter beleidigt, und es blieben mit den verwerflich befundenen und
verworfenen Reformen auch die andern wahrhaft nothwendigen und heilsamen
Die späte Begeisterung in einem Artikel der Leipziger Zeitung für die elegante
Welt aus dem Jahre 1802 für den „Riesengedanken des großen Josephs“, „in
seiner Monarchie nur eine Sprache [selbstverständlich die deutsche, L. T.]
einzuführen“, wirkte bekanntlich auf den ungarndeutschen Korrespondenten
des Neuen Teutschen Merkurs verständlicher Weise provozierend.”®
Wird dasjeweilige Ungarnbild ausschließlich oder überwiegend von solchen
und ähnlichen (zum Teil sogar von politischen Ansichten?” motivierten)
Ungarnschemata bestimmt, so geht es jeweils mit hoher Wahrscheinlichkeit
dem Inhalt nach um unzuverlässige Informationen, die sich unter ungarn¬
fremden Aspekten konstituierten und die bei allen möglichen positiven und/
oder negativen Akzentverschiebungen im Grunde genommen eigentlich
immer unverändert bleiben, wie dies für jede stereotype Anschauung auch
immer charakteristisch ist. Das Fremdenimage erlebt nämlich meistens gar
keine oder höchstens nur kurzlebige und jeweils unbedeutende Innovationen
durch den Gegenstand selbst. Man sieht, was man im Voraus weiß, was man
sehen will, was auch immer das im Voraus Vorgestellte (bzw. Vorbestellte)
bestätigt.
DerjungeErnst Moritz Arndt, ausdessen Ungarnberichtichden Grundstock
der deutschen Ungarnschemata exzerpierte, reiste 1798 auf einem Schiff
von Wien nach Pest-Ofen, hielt sich dort zwei Wochen auf, bemühte sich in
einer umfangreichen Reisebeschreibung ein wirklich klischeefreies genaues
Bild von Land und Leuten zu entwerfen. Es gelang aber auch ihm leider nur
selten, sich von den Fesseln jahrhundertealter Klischees zu lösen. Wenn er es
versuchte, projizierte er meistens bewusst oder unbewusst, eher auf Grund
von theoretischen Überlegungen als praktischen Erfahrungen, seine eigenen
27 Vgl. auch Schlegel, Friedrich: Über die neuere Geschichte. Vorlesungen, gehalten zu Wien
im Jahre 1810. In: F. Schlegels sämtliche Werke. Bd. 11. Wien: Ignaz Klang, 1846, S. 366 f.
?® Bruchstücke über Ungarn. In: Zeitung für die elegante Welt, 8. May 1802, 1. Halbband,
Nr. 55, Sp. 434 f. In: Deutschsprachige Texte aus Ungarn, Bd. 3, S. 161-163. Siehe darüber
ausführlich Kap. X1/4.
Schema 5 involviert eigentlich an sich schon politische Absichten, sich in ungarische
Angelegenheiten einmischen zu wollen.