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6. NEUE VARIATIONEN DER ALTEN KLISCHEES

Im angehenden 19. Jahrhundert machte man sich auf deutscher Seite
immer wieder politische Gedanken darüber, wie die soziale und kulturelle
Entwicklung des an sich reichen, jedoch unverándert zurückgebliebenen
Landes der Ungarn (Schema 3 und 4) gefördert werden könnte (Schema 5).
Man berief sich dabei gerne auf historische Erfolge (bzw. Erfolge versprechende
Plane und Initiativen) aus der nahen Vergangenheit unter der Herrschaft von
Maria Theresia und Joseph II.

Als Beispiel für den Ausgang möglicher und wünschenswerter Reformen
erinnerten u. a. die Blätter für Polizei und Kultur in Tübingen im Jahre 1801
mit überschwänglicher Anerkennung ihre Leser an das Urbarialgesetz der
Königin von 1764:

Im J. 1764 lies Maria Theresia das Urbarium entwerfen [...] Der ungersche Bauer ist
sonach nirgend mehr an den Boden gebunden, sondern er kan seinen Grundherrn
und Wohnort, nachdem er vorher Rechnung mit ihm gehalten, zur rechten Zeit
verlassen und vertauschen. Er ist ein frei wandernder Bauer (colonus liberae
migrationis). Er steht unter dem Schuze der Geseze, den er nöthigenfalls selbst
wider den König reklamiren kan. Seine Dienste, Abgaben und Urbarialpflichten
sind, wie seine Rechte, genau bestimmt. Nach Erfüllung dieser Pflichten, ist er von
allen Herrschaftszwange frei. Auch der Mühlenzwang ist verbothen. Er kan über

seinen beweglichen Erwerb frei verfügen, seine Naturalien veräussern etc.“”*

Liest man dagegen die vielseitig begründeten deutschen Worte des Ungarn
Gregor Berzeviczy aus der gleichen Zeit (von Frühjahr 1802) unter dem Titel
Ungarns Industrie und Commerz, nach denen Ungarn unter der Herrschaft
von Maria Theresia und Joseph II. „in einen wahren Colonial-Zustand
herabgesetzt“ wurde, mit anderen Worten ebenda, in einen ,,Zustand, durch
welchen die See-Mächte von einigen barbarischen Völkern Indiens ihren
Reichthum erpressen“, müssten die an das Ungarnschema 5 geknüpften
Illusionen zumindest verunsichert werden.”

Auch Friedrich Schlegel überdimensionierte die Bedeutung und Notwen¬
digkeit der josephinischen Reformversuche noch 1810 unter national¬
historischen Aspekten und stellte sie (nach ungarischen Vorstellungen
doch etwas anmaßend)” in die Reihe von denen der zwei bedeutendsten
ungarischen Könige des Mittelalters, St. Stephan und Matthias Corvinus,
indem er sich folgendermaßen äußerte:

24 [- -]: Züge zur Polizeikunde von Ungarn. In: Blätter für Polizei und Kultur, Tübingen, 1801,
H. 4, S. 290 f.

Berzeviczy, Gregor: Ungarns Industrie und Commerz. In: Neue Zeitung fiir Kaufleute,
Fabrikanten und Manufakturisten. Hg. v. J. A. Hildt. Weimar: 1802, Nr. 22, S. 172 f. In:
Deutschsprachige Texte aus Ungarn, Bd. 3, S. 61 f. Siehe darüber auch Kap. 1/7 u. X/7.
Siehe dazu mehr im Kap. X/5.

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