5. DIE KONSTITUTION DES KONIGREICHS — GLUCK UND/ODER UNGLUCK (DIVERGENTE ASPEKTE)
niedriger Leidenschaften, und eine entehrende Unwissenheit, die Eigenschaften
der Meisten unter ihnen. Und diese Leute sollen dich, biederes ungarisches Volk
Auch Goethe hat sich noch 1821 recht gegenwartskritisch und gleichzeitig
rückblickend auf die Zeiten von Joseph II. gegen die ungarische Verfassung
geäußert, indem er darin das größte Hindernis aller Fortschritte im
Königreich sah:
Es gehört eine geistreiche, kluge und energische Regierung dazu, um so
verschiedenartige Völkerstämme in Frieden zusammen zu halten; hiezu mag
auch die heilige Allianz beitragen. Nur Schade, dass es in diesem so großen und
gesegneten Königreiche mit der Geistes- und Bodenkultur nicht vorwärts gehen
will. [...] Da jeder König von Ungarn die Aufrechterhaltung der Constitution
beschwört, so lässt sich auch das Gute und Nützliche leider mit Gewalt nicht
aufdringen. Es dürften aber doch einmal Zeiten kommen, wo wie unter Kaiser
Joseph, das für das Land Nützliche mit Gewalt aufgedrungen wird. *°
So unterschiedlich die Urteile auch waren, versuchten seit Maria Theresia
alle Herrscher des Landes, sich so weit wie dies nur möglich war, gegen
die ungarische Verfassung durchzusetzen. Maria Theresia schuf sich
größere Bewegungsmöglichkeiten, indem sie z. B. den Landtag anderthalb
Jahrzehnte nicht einberufen ließ und ersetzte gleichzeitig die ausgefallenen
Steuern (der Adel war ja nach der Konstitution kein Steuerzahler) u. a. durch
harte Zollmaßnahmen. Die Zollgrenze zwischen dem Kaisertum und dem
Königreich hatte freilich für die Entwicklung der ungarischen Industrie
verheerende Folgen.
Joseph II. ließ sich schon gar nicht zum ungarischen König krönen, damit
seinen Reformplänen die alte Konstitution gar nicht im Wege stehe. Man
nennt ihn in Ungarn heute noch „den König mit dem Hut“,?” den „Beglücker
seines Volkes gegen dessen Willen“. Ihm leistete selbstverständlich der Adel
kontinuierlich Widerstand. Einige Hochstapler-Naturen bereisten sogar
ganz Deutschland, um einen passenden König zur heiligen Stephanskrone
zu finden. So wurden dabei Verhandlungen u. a. mit Friedrich II. geführt,
35 [Glatz, Jacob]: Freymütige Bemerkungen eines Ungars über sein Vaterland. Auf einer Reise
durch einige ungarische Provinzen. Teutschland: 1799, S. 46. In: Deutschsprachige Texte
aus Ungarn, Bd. 3, S. 32 f.
36 Goethes Gespräche. Eine Sammlung v. Freiherr von Biedermann. Bd. 3, Teil 1, 1817-1825.
München: DTV, 1998, S. 316. Gespräch mit dem Rat Grüner, den 1. September 1821.
7 Siehe dazu das umfangreiche ungarische Gedicht über Joseph II. v. Päl Änyos (1756-1784)
unter dem Titel „Kalapos kiräly“ [König mit dem Hut] aus den angehenden achtziger Jahren.