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VIII. EINE GATTUNG OHNE GRENZEN... können allerdings innerhalb der deutschsprachigen Literatur Ungarns um 1800 die Briefe des Michael Rachschiml zu den fiktiven Briefen belletristischen Charakters gerechnet werden.” Diese dienten der Belustigung des urbanen Publikums in Pest und Ofen. Auch ihr Verfasser war eine fiktive Person, ein unkultivierter Tölpel, dessen Pest-Ofener Briefberichte im Jahre 1803 das Leben in der „Großstadt“ mit bissiger Ironie karikierten, und an dessen unpoliertem „TIschepeler Deutsch“, ungeschulter Orthographie und mangelhafter Kultur, die Töchter und Söhne der deutschsprachigen Bürger der ungarischen Hauptstadt - dank ihrer damals bereits um etwas doch schon höheren Bildung - sicherlich viel Freude haben durften — gewiss mehr als der deutsche Leser im angehenden 21. Jahrhundert, hatten ja die Zeitgenossen doch noch einen leichteren Zugang zum regionalen Kauderwelsch wie auch zu den Ofner und Pester Aktualitäten jener Jahre. 6. „LITERARISCHE“ BRIEFE Schon wegen der uferlosen Unmenge dieses Briefsortiments versucht man wiederholt literarische und außerliterarische Briefe auseinander zu halten,” somit zur weiteren Orientierung wenigstens Ästhetisches und Gemeines voneinander zu trennen, wobei man allerdings nicht einmal genau zu definieren weiß, wann der Brief die Grenzen zwischen schriftlich fixiertem natürlichem Redefluss und Poesie überschreitet. Nach dem Sichten der privaten und an die Öffentlichkeit adressierten schriftlichen Botschaften der deutschsprachigen Ungarn um 1800 gehe ich davon aus, dass das Poetische in welchem Ausmaß auch immer eigentlich keinem einzigen Brief abgesprochen werden dürfte, möge man dabei das „Mehr“ oder das „Weniger“ mit den Attributen „literarisch“ bzw. „literarisiert“ zu differenzieren versuchen.” Die allgemeine Tendenz in den breiten Grenzbereichen des Gemeinen und des Poetischen zum letzteren hin ist nämlich selbst in den sogenannten „außerliterarischen Briefen“ schon deshalb unumgänglich und meistens von vorneherein für das Poetische entschieden, weil die schriftliche Mitteilung im Gegensatz zur mündlichen die bewusste Berücksichtigung einer ganzen Reihe von formgebenden und -bestimmenden Aspekten voraussetzt. Hinzu gehört erstens eine Art Ökonomie der notwendigen Kürze, bedingt durch den größeren Zeitaufwand beim Schreiben als beim Sprechen. Es ist sicher kein Zufall, dass der Begriff „Brief“ im Deutschen von brevis abgeleitet Ofen und Pester Extrablatl oder Michael Rachschimls Briefe an seinem [sic!] Herrn Vetter in Tschepele. 2 Hefte. Ofen: 1803, S. 46, 48. Eine Auswahl in: Deutschsprachige Texte aus Ungarn, Bd. 3, S. 341-349. Ausführlicher siehe dazu Kap. IX/4. ” Siehe u.a. „Brief und Literatur“, in: Nickisch, Brief, S. 93-101. 28 Vgl. dazu „Literarischer Privatbrief und literarisierter Brief“, ebd., S. 101-106. + 19% +