VII. EINE GATTUNG OHNE GRENZEN ¬
VERSUCH ÜBER DEN DEUTSCHSPRACHIGEN BRIEF
IN UNGARN UM 1800!
Das terminologisch etikettierte Schubfachsystem verschiedener Gattungen
wurde urspriinglich fiir die empirischen Naturwissenschaften geschaffen.
Seit mehr als einem Jahrhundert ist es allerdings selbst in diesen exakteren
Bereichen der wissenschaftlichen Erkenntnisse stets zunehmend fragwiirdig
geworden. Die Sprache, die Kultur, die Kiinste, darunter vor allem die Literatur,
widerstrebten schon immer jeder Kategorisierung. Ihre unterschiedlichen
Termini dienten und dienen letztlich meistens nur einer höchst offenen
und daher unter wissenschaftlichen Aspekten in erheblichem Maße
inexakten Annäherung an tatsächlich vorhandene historische, kulturelle
bzw. ästhetisch-poetische Sachverhalte. „Jede Gattungseinheit mit großem
Textumfang tendiert zur Begriffslosigkeit, sofern sie nicht durch epochale,
stilistische oder andere Faktoren gestützt wird, in denen sie möglicherweise
aber auch aufgeht“ — behauptet Margrit Schnur-Wellpott in ihrer Gattungs¬
theorie.” Überzeugend kann diese These mit der uferlosen Gattung des
Briefes innerhalb der Geschichte der Literatur untermauert werden.
Allgemein gehaltene, allen Erscheinungsformen des Briefes entsprechende
Definitionen, wie etwa Briefe seien „schriftliche Mitteilungen an Entfernte“,’
Abwesende bzw. „Gesprächersatz“, realisiert im „kommunikativen Vorgang
[...] zwischen [...] Emittenten und/oder Rezipienten“ etc., machen besonders
deutlich, dass Klassifikation und brauchbare Wesenserkenntnis konkreter
Erscheinungen einander kaum unterstützen können. Die Kontinuitätzwischen
! Konferenzvortrag während der Tagung des Literatur- und Kulturwissenschaftlichen
Komitees der Österreichischen und der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in
Szeged im September 2002. Der ursprüngliche Text erschien im Tagungsband „Der Brief in
der österreichischen und ungarischen Literatur“. In: Budapester Beiträge zur Germanistik.
Bd. 45. Budapest: Eötvös-Loränd-Universität, 2005, S. 91-102.
? Schnur-Wellpott, Margrit: Aporien der Gattungstheorie aus semiotischer Sicht. Tübingen:
Gunter Narr Verlag, 1983, S 173 £.
? Siehe dazu die Definitionen in den Wörterbüchern, so z. B. in: Der Sprachbrockhaus. 7. Aufl.
Wiesbaden: 1968, S. 106; Wahrig, Gerhard: Deutsches Wörterbuch. Tirnovo: Verlag Abagar,
1994, S. 297.
* In: Nickisch, Reinhard M. G.: Brief. Stuttgart: Metzler, 1991, S. 9.